Samstag, 24. Juni 2000

Grußbotschaft an die Holguiner

Beim Schreiben dieser Zeilen bin ich mir sicher, daß ihr heute im Namen ganz Kubas eine der großartigsten Kundgebungen in der Geschichte der Revolution veranstalten werdet.

Die gestern erhaltenen ermutigenden Nachrichten inmitten einer nun schon sieben Monate andauernden Schlacht, die wir unter äußerst feindseligen und nachteiligen Umständen gegen eine Ungerechtigkeit schlagen, die uns zutiefst verwundet hat, werden nicht dazu führen, daß wir in unserer Wachsamkeit nachlassen.

Nie hätte dieses Gerichtsverfahren in den Vereinigten Staaten stattfinden dürfen, dessen Gerichte gemäß den Normen des Völkerrechts und gemäß den US-amerikanischen und kubanischen Gesetzen dafür nicht zuständig waren.

Immer noch sind nicht zu unterschätzende latente Risiken da. Es brauchte nur ein Mitglied des obersten Gerichts jenes Landes, dem die Entscheidung in diesem Fall obliegt, das die bereits angekündigte Interdiktgesuch akzeptiert, und der USA-Aufenthalt des Kindes und seiner Angehörigen würde sich noch über Monate hinziehen.

Die kriminelle Mafia von Miami und ihre Verbündeten in der Ultrarechten der Vereinigten Staaten besitzen noch Macht und Manipulationsspielraum. Nicht eine Minute würden sie, skrupellos wie sie sind, zögern, diese einzusetzen, wenn es darum ginge, das Opfer ihres Hasses weiterhin zu foltern und an dem Jungen, seinen Angehörigen und seinem Volk rachsüchtig Vergeltung zu üben.

Wir werden uns keine Minute Ruhe gönnen, nicht einmal wenn Elián und sein mutiger Vater nebst den anderen Angehörigen und nahen Freunden nach Kuba zurückkehren. Uns obliegt die heilige Pflicht zu verhindern, das das mörderische Cuban Adjustment Act das Leben vieler kubanischer Kinder, Mütter und anderer Bürger verschlingt. Außerdem stehen wir noch vor dem rastlosen Kampf gegen das Helms-Burton- und das Torricelli-Gesetz, gegen die Dutzende Amendments des US-Kongresses, um unser Land zu ersticken; gegen die kriminelle Blockade, den Wirtschaftskrieg, die unaufhörliche Politik der Subversion und Destabilisierung einer Revolution, die seit mehr als 130 Jahren begann, die wir in Ausübung unserer unabdingbaren Rechte als absolut souveränes und unabhängiges Volk um den Preis vielen Blutes, vieler Opfer und großen Heldenmutes durchgeführt und fest verankert haben. So haben wir es geschworen, und so werden wir den Schwur halten!

Auch hegen wir tiefe Gefühle des Internationalismus. In den härtesten Tagen des Kampfes um die Befreiung Eliáns waren es 70 Prozent des US-amerikanischen Volkes, die uns Unterstützung leisteten. Das dürfen und werden wir nie vergessen. Im Rahmen dieser entscheidenden und wunderbaren Unterstützung wurden die Rechte des Kindes und seines Vaters von 90 Prozent der afroamerikanischen Bürger verteidigt.

Vor knapp 24 Stunden wurde ihnen wie auch den meisten US-Amerikanern ein harter Schlag versetzt. Es war die Unglücksminute, in der Shaka Sankofa - wie er sich nach Verkündung seines Todesurteils zu nennen entschieden hatte - ermordet wurde. Auch unser Volk war erschüttert und empört über einen solchen Schmerz. Es war ein unbeschreibliches Verbrechen.

Abgesehen von den Gesetzesverletzungen, deren Shaka Sankofa von seinen Henkern mit starkem Nachdruck, Rachsucht und blinder Wut beschuldigt wurde, die er als Halbwüchsiger beging, als er in Armut, Marginalität und Rassendiskriminierung lebte, so steht doch unfragwürdig fest, daß sein Todesurteil wegen mutmaßlicher Tötung, deren Verschulden ihm noch nicht einmal nachgewiesen werden konnte, rücksichts- und erbarmungslos gefällt wurde, als er noch minderjährig war. Alles, was ihm angetan wurde, steht im Widerspruch zur Lehre und den Prinzipien des Völkerrechts. Der einzige Beweis, den sie vorbrachten, war die Zeugenaussage einer Person, die sich in fast vierzig Fuß Entfernung befand - ziemlich entfernt für das Feststellen von Details, noch dazu bei Dunkelheit - und die behauptete, in der Nähe des Tatorts sein Gesicht für Sekunden hinter der Scheibe seines Autos erkannt zu haben. Mehrere Zeugen, die das Gegenteil hätten beweisen können, wurden nicht zur Verhandlung vorgeladen, bei der er außerdem, arm wie er war, keinen erfahrenen Verteidiger hatte. Die ballistischen Untersuchungen ergaben, daß die den Tod des Opfers verursachten Geschosse nicht aus der Waffe stammten, die den Anklägern selbst zufolge, der Angeklagte bei sich trug. Mehrere Mitglieder des Geschworenenkollegiums, das ihn verurteilte, haben bestätigt, daß, wären ihnen diese Umstände und Regelwidrigkeiten bekannt gewesen, sie ihn niemals für schuldig befunden hätten.

Während des langen Kampfes Shaka Sankofas für den Beweis seiner Schuldlosigkeit, waren alle, die ihn kannten und unterstützten, stets und absolut von dieser Schuldlosigkeit überzeugt sowie davon, daß der Urteilsspruch einen widerlichen Mord darstellte. Die bei seiner Verteidigung zu spürende entschlossene Willenskraft, seine Beredsamkeit, seine Würde vermitteln auch den gleichen Eindruck.

In den Vereinigten Staaten und in der Welt überhaupt ist man allgemein der Meinung, daß er schlechtweg zum Tode verurteilt und hingerichtet wurde, weil er ein Schwarzer war.

Zum Verbrechen des Todesurteils gegen einen Minderjährigen kam noch der monströse Fakt, ihn 19 Jahre lang im erleuchteten Katafalk oder, um es noch brutales auszudrücken, dem "Todestrakt" zu halten. Doch auch das war noch nicht genug, um die Rachsucht der Rassisten zu stillen, um ihm einen Aufschub zur Klärung dessen zu gewähren, was in jeder Beziehung ein Prozeß voller Regelwidrigkeiten und Amtsmißbrauch war. Jede dazu befugte Behörde, bei der auch nur ein Minimum an Mitleid vorhanden war, hätte es getan.

Shaka Sankofa hat der Welt die bitteren Früchte eines sozialen Systems vor Augen gehalten, in dem die Unterschiede zwischen den Reichsten und den Ärmsten unendlich groß sind und wo Individualismus, Egoismus, Konsumdenken, allgemeiner Waffenbesitz und Gewalt wie ein philosophisches Fundament herrschen.

Das Bewundernswerte an jenem Halbwüchsigen, der arm, ausgegrenzt und schwarz war - und vielleicht aus diesem Grunde ohne jegliche Beweis zum Tode verurteilt wurde - ist, wie er während jenes unendlichen Wartens im "Todestrakt" das beeindruckende politische und gesellschaftliche Bewußtsein entwickelte, das er bei seiner Hinrichtung zum Ausdruck brachte. Nicht wie ein zahmes Reh gin er zum Schafott. Er hielt mit Gewalt und bis zum Tode, so wie er es versprochen hatte, den Hinrichtungsprozeß aus. Er sprach wie ein Prophet. Er forderte auf, weiter zu kämpfen gegen das, was er als Holocaust oder Massenmord bezeichnete, dem die Afroamerikaner ausgesetzt sind. Er forderte die Geltendmachung seiner Schuldlosigkeit. Er starb wie ein Held.

Auf diese Weise schafft die Unterdrückung, die Ausbeutung, die Ungleichheit und die Ungerechtigkeit Männer, die in der harten Stunde eines ungerechten Todes fähig sind, ein Imperium zu erschütern und die Bewunderung aller ehrenhaften Menschen der Welt hervorzurufen. Kann das vielleicht mit den Fehlern gerechtfertigt werden, die ein armer, diskriminierter und marginierter Negerjunge im reichsten Land der Welt begangen hat?

Es ist für uns nicht nur eine Pflicht der Dankbarkeit, sondern auch eine hohe Pflicht des Internationalismus, uns dem energischen Protest von Millionen US-Amerikanern, weißer und schwarzer, Indianer, Lateinamerikaner, Mestizen anzuschließen, die mit Entrüstung diese verwerfliche rassistische Form der Rechtsprechung verurteilen.

Diese Tatsachen überzeugen uns mehr denn je, daß die Zukunft voll unseren Träumen von Gleichheit und Gerechtigkeit für alle Menschen gehört.

Die Völker werden siegen!



Fidel Castro Ruz

24. Juni 2000

12.42 Uhr

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