Samstag, 18. November 2000

Fidel Castro während der Arbeitssitzung des 10. Iberoamerikanischen Gipfeltreffens der Staats- und Regierungschefs in Panama-Stadt am 18. November

Redebeitrag von Dr. Fidel Castro, Präsident des Staatsrates und des Ministerrates der Republik Kuba, während der Arbeitssitzung des 10. Iberoamerikanischen Gipfeltreffens der Staats- und Regierungschefs in Panama-Stadt am 18. November

Werte Kollegen:

Ich hatte gestern das Privileg, über die Kinder zu sprechen. Ich dachte deswegen nicht, daß ich hier über das Thema sprechen würde, doch die wichtige Debatte, die hier heute morgen stattgefunden hat, zwingt mich dazu, einige kurze Worte an Sie zu richten. Ich weise auf die Kürze hin, damit niemand erschreckt. (Lachen).

Die neoliberale Globalisierung führt die Welt in eine Katastrophe. Schluß und aus.

Ich teile keine Philosophien und Dogmen irgendeiner Art. Schluß und aus.

Wenn wir hier sprechen, vergessen wir viele Dinge. Wir vergessen, daß es lateinamerikanische und europäische Nationen gibt. Wir vergessen, daß als große Ausnahmen nur einige wenige lateinamerikanische Länder – und wir freuen uns darüber – bestimmte Niveaus der wirtschaftlichen, industriellen und sozialen Entwicklung erreichen, die weit über dem Rest der lateinamerikanischen Länder liegen.

Chile sprach zum Beispiel davon, daß die Zahl der Armen von fünf auf drei Millionen zurückgegangen sei. Und es verdient für diesen Erfolg unsere Anerkennung und unseren Glückwunsch.

Die seriösesten Studien beweisen nichtsdestotrotz, daß im gesamten Lateinamerika die Anzahl der Armen täglich und jährlich anwächst, und daß etwa 50 % Arme und Mittellose sind. Ich beziehe mich hierbei auf die Kinder.

Wir vergessen zum Beispiel, daß die öffentliche Verschuldung Lateinamerikas und der Karibik, die sich 1992 auf 478 Milliarden Dollar belief, heutzutage 750 Milliarden Dollar beträgt.

Wir vergessen, daß es zu diesem kolossalen Anstieg gekommen ist, nachdem in jenem Zeitraum 913 Milliarden Dollar gezahlt worden waren.

Wir vergessen, daß der Internationale Währungsfonds, den wir alle gut kennen, und seine Herren existieren.

Wir vergessen, daß die privaten ausländischen Investitionen, die sich zum Ende des letzten Jahrzehnts auf 115 Milliarden Dollar beliefen, heute – oder im Jahr 1999 – auf 865 Milliarden Dollar angestiegen sind. Und daß von dieser Summe 71 % in den reichen Ländern selbst und nur 29 % in den sogenannten Entwicklungsländern investiert wurden. Von diesen 29 % wurden 45 % in China, 40 % in Lateinamerika und 15 % in Afrika und Asien investiert. Von dieser investierten Gesamtsumme wurden 85 % nicht investiert, um neue Industrieanlagen und Dienstleistungen – und damit Quellen für Beschäftigung und die Schaffung von neuen Reichtümern – zu schaffen, sondern um bestehende Unternehmen und Dienstleistungen zu erwerben. Ein neues Phänomen.

Es gibt keine wirkliche Antwort auf die Bedürfnisse der überwiegenden Mehrheit der Menschen in unseren Nationen.

Sogar in Ländern wie Kuba, das die Ungleichheit bei der Verteilung auf ein Minimum reduziert hat, gibt es Unterschiede, die man spürt. Wenn diese abgrundtief sind und aus der Armut Marginalisierung entsteht, kommt es zur Tragödie. Die Marginalisierung, eine Frucht der enormen Einkommensunterschiede, führt im Bereich der Bildung zu katastrophalen Folgen; es gibt nicht die geringste Gleichheit bei den Perspektiven eines armen Kindes und eines Kindes mit dem unverzichtbaren Minimum an Einkünften, und die Armut betrifft praktisch die Hälfte der Kinder in Lateinamerika und der Karibik. Diese wirkliche Tragödie erfordert eine Antwort.

Ich kann nicht bestreiten, daß auch unter diesen Bedingungen ein Spielraum für das existiert, was man für die Kinder in Lateinamerika machen kann. Dies muß gemacht werden, und hier ist bewiesen worden, daß einige Länder eine besondere Anstrengung in diese Richtung unternehmen. In Kuba, von dessen trotz Blockade und Armut erreichten Fortschritten ich gestern sprach, sind wir nicht zufrieden, denn wir haben begriffen, daß uns noch unermeßlich viel zu tun bleibt. Man kann es machen, und wir werden es tun, unterstützt von den wunderbaren technischen und audiovisuellen Mitteln, über die man heute verfügen kann.

Nebenbei füge ich hinzu, daß wir in unserem Land eine Methode entwickelt haben, um das Lesen und Schreiben mittels Radio beizubringen, eine solche Methode wird in der Republik Haiti getestet, wo man mit 300 Personen begann, und die Ergebnisse sind spektakulär gewesen. Jetzt ist es auf 3 000 Personen ausgeweitet worden, und sie planen, es im ganzen Land durchzuführen. Wir entwickeln das Programm in Kreolisch, welches die Sprache der Haitianer ist. Die Ergebnisse erwecken wirklich Hoffnung. Wenn dies so ist, ist die Chance einer Reduzierung der Zahl der Analphabeten groß, mit einem Minimum an Ressourcen, einem Minimum. Eine zentrale Radiostation überträgt schlicht und einfach diese Kenntnisse.

Ich spreche nicht vom Fernsehen, das ist sehr einfach. Wir weiten die Bildung schrittweise per Fernsehen aus, bis zu einem solchen Extrem, daß praktisch das ganze Land zu einer Universität wird. Ich spreche nicht von Dingen, die noch gemacht werden müssen, sondern von solchen, die bereits gemacht werden, und zwar mit spektakulären Ergebnissen und ausgehend von dem immensen Wissensdurst des Menschen.

Wir führen neben anderen Dingen eine tiefgehende Untersuchung über die Verbindung zwischen Armut, Marginalisierung und Bildung durch. Wir suchen wirklich dort, wo die Quellen oder die Nährböden des Verbrechens sind. Und hier wurden einige sehr interessante Dinge hinsichtlich der Situation – einschließlich des familiären Aspekts – der Jugendlichen gesagt. Darüber haben wir, und sind weiterhin dabei, unzählige Daten zusammengetragen.

Eine Welt eröffnet sich vor unseren Augen, nicht nur in diesem Bereich, sondern auch in vielen anderen. Ohne daß wir reich sind, ermöglicht uns heute das Verfügen über ein reichhaltiges Humankapital, die Frucht des erreichten Bildungsniveaus, Träume zu verwirklichen, die vor Jahren noch als unerreichbare Utopien gegolten hätten, und diese Träume lassen uns Scham fühlen angesichts des Wenigen, was wir bis heute erreicht haben.

Gehen wir von den momentanen Realitäten aus, schreiten wir nicht auf Wolken der Illusionen und Täuschungen; lassen Sie uns in der ungerechten politischen und wirtschaftlichen Ordnung, die der Welt aufgezwungen ist, den realen und hauptsächlichen Grund dafür suchen, daß wir der ersehnten Mittel entbehren, mit denen wir das Schicksal aller unserer Kinder gerne menschlicher machen würden.

Ich danke Ihnen allen, mit Ihren verschiedenartigen, aber interessanten und bemerkenswerten Vorträgen und Kriterien, für die von mir gefühlte tiefgreifende Notwendigkeit, diese Überlegungen zu verfassen.

Ich reihe mich ein in die äußerst gerechtfertigten Glückwünsche für Ihre Majestät, König Juan Carlos, den ich sehr, sehr schätze. Ich hoffe, daß er sich nicht darüber ärgert, daß ich ihm sagte, daß wir zwei übrigblieben. Gott wollte, daß er König ist, und Gott wollte, daß ich am Leben bin.

Danke (Beifall).

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