Montag, 26. Mai 2003

Interview des Chefkommandanten für die Journalisten der Zeitung Clarín im Hotel Four Seasons

Nach dem Interview des Chefkommandanten für die Journalisten der Zeitung Clarín im Hotel Four Seasons, in dem die kubanische Delegation wohnte — es dauerte von 11.30 Uhr bis 13.02 Uhr — versprach Genosse Fidel, an der Transkription dieses Interviews zu arbeiten. Es war aufgrund der zahlreichen Verpflichtungen an jenem Tag zeitlich sehr begrenzt gewesen und hatte ihm keine andere Wahl gelassen als die einer gedrängten Beantwortung jeder einzelnen der Fragen, die die Gruppe der intelligenten und gut informierten Reporter stellte. So verfuhr er und revidierte dann viele Stunden lang die Details der Fragen und der Antworten.

Am Freitag, den 30. Mai konnte das Interview zusammen mit einem im folgenden veröffentlichten Schreiben an die Direktion dieser Zeitung gesandt werden, die für eine umfassende und zuverlässige Verbreitung seiner erweiterten Version gesorgt hat mit minimalen, bei Details vorgenommenen Abweichungen aufgrund der Dringlichkeit, unter der die Transkription für eine am Sonntag, den 1. Juni veröffentlichten Zusammenfassung benutzt wurde, die wir hiermit zur Kenntnis bringen.


Havanna, am 30. Mai 2003

An die Direktion der Zeitung El Clarín

Sehr verehrte Freunde!

An der Transkription des Dokumentes, das ausführlich war, habe ich persönlich ziemlich viel gearbeitet. Es war in Anbetracht der kurzen Zeit und des Zeitdruckes, unter dem das Interview stattfand, keine leichte Aufgabe. Zum besseren Verständnis unserer Denkweise habe ich einige erforderliche Angaben hinzugefügt und Gedankengänge zu Ende geführt, die offen geblieben waren. Dabei habe ich mich strikt an den Inhalt sämtlicher dort angesprochenen Themen- und Problemkreise gehalten und bei Einhaltung der Reihenfolge der Fragen mitnichten den Kern meiner Ausführungen modifiziert. Ich habe keine dieser Fragen angetastet und habe sie alle beantwortet.

Ich kann feststellen, dass bei diesem Interview neue und exklusive, bislang noch nicht behandelte Aspekte angesprochen wurden, die, wie ich sehr hoffe, für die Zeitung von Interesse sein werden. Es ist diese die offizielle Version des Interviews, dessen Inhalt nur Ihnen und uns bekannt ist. Jedwede Besorgnis oder Kriterium lassen Sie uns bitte wissen.

Fidel Castro

Interview des Präsidenten der Republik Kuba, Comandante en Jefe Fidel Castro Ruz, für die Zeitung Clarín; Buenos Aires, Argentinien, am 26. Mai 2003

Journalist: Herr Präsident, wenn es Ihnen recht ist, können wir beginnen.

Fidel Castro: Ja, es sieht ganz so aus, als zwinge uns die Zeit.

Journalist: Ja, sicher.

Mir scheint, ein guter Anfangspunkt ist folgender:

Wir befinden uns in einer Etappe der Umgestaltung des Weltsystems, und diese erfolgt nicht unbedingt mittels Anwendung der Gesetze, sondern in Anwendung von Gewalt, wie wir unlängst sehen konnten.

Kuba — Sie erinnern stets daran, bei jeder Gelegenheit — erträgt seit mehreren Jahrzehnten eine Blockade, die für ein System von Sicherheit in der Politik der Insel, für das Leben der Insel ein großer Hemmschuh ist. Meinen Sie, dass diese Situation, diese Umgestaltung, die George Bush verkörpert, diese Absicht der Umgestaltung prekärer, folgenschwerer ist? Wie sehen Sie das?

Fidel Castro: Das hängt von den Möglichkeiten ab, die sich für diese Umgestaltung ergeben; doch deine Frage kann ich bejahen, diese Situation ist gefährlicher und folgenschwerer. Doch nicht nur für Kuba, sondern für wer weiß wie viele Staaten, denn man müsste die Unbekannte jener Gleichung bestimmen, wenn er sagt, sechzig oder mehr Länder können attackiert werden. Für dieses „oder mehr" muss eine Gleichung gefunden werden. Als es einige Tage nach jener Verlautbarung in den Vereinigten Staaten zu einer Initiative kam und vorgeschlagen wurde, Holland anzugreifen, sollte der Internationale Strafgerichtshof irgendeinen US-Amerikaner sanktionieren, konnte man sehen, dass das X recht weitgefächert zu sein scheint. Ich weiß nicht, ob jemand diesem „oder mehr" entgeht.

Journalist: Herr Präsident, bei dieser Umgestaltung kommt es nun speziell mehr auf die Anwendung von Gewalt als auf die Anwendung des geltenden Gesetzes an. Wenn Sie sagen — und ich glaube, dass es so ist — die Lage für die gesamte Region sei kritischer geworden ist, muss man sich vergegenwärtigen, dass im Unterschied zum vergangenen Jahrzehnt in der Region Regierungen ernannt werden, und wenn es sich nicht um Regierungen handelt, dann sind es politische Vorschläge und Pläne, die von einer Ermüdung Lateinamerikas an der Ungerechtigkeit sprechen; von einer gewissen Ermattung — sei es am neoliberalen Modell, dem Konsens Washingtons, der Name ist von geringer Bedeutung; in der Region ist man der Ungerechtigkeit müde. Das bringt uns natürlich auf den Gedanken — die Geschichte lehrt es uns —, dass, wenn sich diese Prozesse abspielen, die Möglichkeit einer Konfrontation mit den Vereinigten Staaten größer ist.

Wie sehen Sie die Zukunft, nicht nur für Kuba, sondern für die Region? Ich denke dabei an Chávez in Venezuela, an Lula in Brasilien. Welche Bedeutung hat es?

Fidel Castro: Die Gefahr besteht, und zwar nicht nur in der Region, sondern weltweit; doch wie ich sehe, willst du über die Region sprechen.

Journalist: Ja

Fidel Castro: Ja, die Gefahr für die Region existiert. Sie liegt in den Aggressionsrisiken und darin, dass die Region verschlungen wird: Gefahren der Unterwerfung, des Besitzergreifens der Ressourcen, des Aufzwingens eines Systems, das in der Tat in einer Krise steckt. Es ist die neoliberale Globalisierung, bei der alles, was geschieht, nichts weiter ist als ein Ausdruck ihrer Krise.

Kuba nimmt einen vordersten Platz ein; es hat die Ehre, dem größten Risiko ausgesetzt zu sein.

Journalist: Herr Präsident, obwohl die Gefahr für Kuba sehr groß ist, liegt doch das in der Region größte Risiko vielleicht in Kolumbien. Im Falle Kolumbien kann man jetzt an einen Aufruf der kolumbianischen Regierung zur Militarisierung des lange Jahrzehnte anhalten Kampfes auf dieser Erhälfte denken; und es wird für die Länder sehr schwer werden, wenn es zu diesem Aufgebot kommt und wenn die Vereinigten Staaten zur Militarisierung in der Hemisphäre ermuntern; um es deutlicher zu sagen, zu einer militärischen Intervention der Länder der Region in Kolumbien.

Fidel Castro: Ja, doch das geht zurück auf die Zeit vor dieser Regierung so wie sich ebenfalls vor dieser Regierung Kosovo ereignete.

Journalist: Ja natürlich, die Intervention der NATO.

Fidel Castro: Dabei redete man von der neuen strategischen Konzeption der NATO. Als sich am 28. Juni 1999 in Brasilien die europäischen Staatsoberhäupter mit denen Lateinamerikas und der Karibik trafen, stellte ich einige Fragen zu dieser neuen strategischen Konzeption. Eine davon lautete: Wir wüssten gern, ob die lateinamerikanischen und die Staaten der Karibik in der von der NATO definierten euroatlantischen Peripherie inbegriffen sind.

Eine weitere und sehr angebrachte Frage war: Nach vielen Debatten unterstützt nun die Europäische Union eine Erklärung dieses Gipfeltreffens, die besagt: Dieser strategische Bund basiert auf der vollen Achtung des Völkerrechts und der Ziele und Prinzipien der UN-Charta, den Prinzipien von Nichtangriff, Achtung der Souveränität, der Gleichheit der Staaten und der Selbstbestimmung. Bedeutet das, dass sich die Vereinigten Staaten ebenfalls verpflichten, die in dieser Vereinbarung ihrer Verbündeten enthaltenen Prinzipien zu achten? Wie würde sich Europa verhalten, sollten die Vereinigten Staaten eigenständig entscheiden, unter irgendeinem Vorwand über irgendeinem der hier versammelten Länder Lateinamerikas und der Karibik Bomben abzuwerfen oder Raketen auf die Länder zu starten? Die Frage war, ich will nicht sagen provokatorisch, doch wohl sehr aufrichtig.

Das den Vorsitz der Tagung führende Staatsoberhaupt Brasiliens, Fernando Enrique Cardoso sagte, diese Fragen seien sehr bedeutsam und er empfehle ihre Beantwortung im Rahmen einer unmittelbar anschließenden außeramtlichen Sitzung. Der deutsche Kanzler Schröder und die anderen europäischen Führungspersönlichkeiten waren einverstanden.

Es kam zu der außeramtlichen Sitzung und ich wartete darauf, dass das Thema an die Reihe käme. Sie sprachen über dieses, über jenes und noch anderes. Die Zeit verging, und niemand kam auf das Thema zu sprechen. Ich wollte nicht impertinent sein und eine Antwort fordern. Das Wichtige war nicht die Antwort, sondern die Frage, die dort im Raum stehen blieb. Ich wusste, keiner der Europäer konnte auch nur ein Wort dazu sagen. Die Geschehnisse der Folgejahre erklären alles. Und heute neigt sich das Kräfteverhältnis noch viel stärker auf die Seite der Vereinigten Staaten.

Ich selbst habe unlängst dem Chef der spanischen Regierung eine Frage zu gewissen Empfehlungen gestellt, die er inmitten des Kosovokrieges gab; etwas sehr Ernsthaftes. Doch es gibt keine Antwort darauf, und vielleicht kann es sie nicht geben. Ich gelangte zu einer Schlußfolgerung und halb scherzend sagte ich: „Ich klage an, also bin ich nicht." Denn in einigen Dingen bin ich gewichtig, vor allem, wenn es um das Beschuldigen geht. Wenn ich dann eine zu beantwortende Frage stelle, ist ihre Antwort ein tiefes Schweigen.

Was du nun konkret anführst, hierin hat es einen Wandel gegeben; das heißt in jener Politik, die sich als eine Konzeption der Oberherrschaft abzeichnete, an der die Supermacht mit ihren alten und neuen Verbündeten beteiligt waren, wobei die neuen gefährlicher sind, denn sie wollen sich schnell verdient machen. Nun ist die Situation eine andere als damals, da ich die Frage nach der neuen strategischen Politik der NATO stellte. Dahinter stehen Ideen, die vordem gestützt wurden durch Argumente oder Vorwände. Diesmal benötigt die US-Regierung weder Argumente noch Vorwände. Jene Politik erfolgte mehr oder weniger im Rahmen der Vereinten Nationen und der Privilegien des Sicherheitsrates. Die heutige ignoriert die Vereinten Nationen, ignoriert den Sicherheitsrat, ignoriert Europa, ignoriert die NATO, ignoriert alle Welt. Ihre neue Konzeption trägt ganz und gar unilateralen Charakter.

Journalist: Herr Präsident, lassen Sie es mich veranschaulichen.

Seit der Raketenkrise bis heute, bis zu dieser Administration — also all das, was Sie gesagt haben, hätte ausgetragen werden können — seit dieser Raketenkrise bis heute war eine direkte militärische Aktion der USA gegen Kuba wie zu Zeiten der Seeblockaden immer schwerer vorstellbar. Bestehen nun heute wieder größere Möglichkeiten?

Fidel Castro: Ja, die Möglichkeiten dieses Fehlers sind größer geworden.

Die Logik müsste sie darauf hinweisen, es nicht zu tun; doch wir brauchen uns nicht an die Logik zu halten, denn von Logik halten sie nicht viel, und vom Völkerrecht auch nicht.

Damals bestand eine sehr drohende Gefahr während einer bestimmten Zeit, einer Anzahl von Tagen. Heute ist das Risiko zeitlich verlängert.

Journalist: Wenn Sie mir gestatten. Vor dreißig Jahren war die Ermattung an Ungerechtigkeit, die Oscar erwähnte, auch in Südamerika zu verzeichnen. Es gab sie in Regierungen, Argentinien, Chile, Uruguay. Diese Erfahrungen endeten tragisch für unser Land. Warum sollte das heute anders sein?

Fidel Castro: Welche Erfahrung meinst du?

Journalist: Die 70er Jahre, den Fall Salvador Allende in Chile, Cámpora-Perón in Argentinien. Es kam zu einer lateinamerikanischen Protestwelle, die in Diktaturen endete. (Stimmen)

Fidel Castro: In blutigen Tyranneien. Es waren schreckliche Dinge, die passiert sind; ich weiß nicht, mir scheinen sie von einer ungewöhnlichen Fantasie .

Journalist: Und heute ergrünt Argentinien von Neuem.

Fidel Castro: Nun gut, doch die Zeiten haben sich geändert.

Ich würde sagen, es ist dieser der beste Zeitpunkt für Lateinamerika, im Unterschied zu jenem.

Journalist: Dieser ist der beste Zeitpunkt?

Fidel Castro: Ja, es ist nach meinem Dafürhalten der beste Zeitpunkt.

Journalist: Warum?

Fidel Castro: Ich werde es Ihnen erklären.

Früher waren es vereinzelte Länder. In Chile gewannen die Linken. Das Erste war ein Putschplan, um ihre Machtübernahme zu verhindern. Der Plan scheiterte. Allende wurde Präsident. Er handelte sehr taktvoll. Ich kannte ihn sehr gut; er war kein Extremist. Jedoch wurde alles vom ersten Augenblick an für seinen Sturz organisiert: Vorbereitung, Schaffung der Bedingungen. Dazu kamen die realen und die provozierten ökonomischen Probleme. Unter derartigen Umständen gerät eine jede Regierung in ein großes Dilemma: einmal die alten Forderungen und das Streben der Menschen nach frühestmöglicher Verbesserung ihrer Bedingungen und auf der anderen Seite die alten und mächtigen Interessen, die zu schlagen nicht einfach sind; das erfordert einen behutsamen Prozess und Zeit. Die am stärksten Leidgeprüften werden ungeduldig, und die Gegner dieser Veränderungen agieren mit dem Ziel einer schnellen Zermürbung und dem folgenden Sturz der Regierungen. Es ist kein Geheimnis, dass es eine schwere Aufgabe war.

Jener genannte argentinische Zeitpunkt war ebenfalls von großer Bedeutung, behaftet mit Risiken interner Art; das natürlich in einem Land, das über umfassende Ressourcen verfügt — es muss gesagt werden, verübeln Sie es uns nicht — enorme Ressourcen aller Art: Nahrungsmittel, Energieträger, ja sogar industrielle Güter.

Journalist: Comandante, bei anderen Gelegenheiten haben Sie uns öffentlich daran erinnert, dass wir ein reiches Land und effizienter waren.

Fidel Castro: Ja, das habe ich. Sie wissen, was Sie sagen. Auf eine Kritik hat man mit einer Kritik zu antworten.

Nun gut, die Bedingungen waren diesbezüglich bessere als in Chile. Chile war sehr stark vom Kupfer abhängig. Jetzt wurden auch, obwohl es ein Agrarland geblieben ist, andere Wirtschaftsbranchen entwickelt, viele Wirtschaftsposten. Beispielsweise ist das Fischereiwesen zu einer wichtigen Einkommensquelle geworden; sogar Milchproduzent wurde das Land. Die Landwirtschaft hat an Bedeutung gewonnen. Der Wein — ohne bei anderen Weinen Abstriche zu machen — besitzt Qualität, verzeichnet Produktivität und ein breites Sortiment. Doch hauptsächlich entwickelten sie Wald- und Meeresprodukte, die wichtige Einnahmequellen sind. Auch im Erzbergbau hat es eine Weiterentwicklung gegeben.

Allende standen diese Mittel nicht zur Verfügung. Für ihn gab es viele Bedürfnisse, hohe Forderungen und direkte oder indirekte Blockaden, Sperrung der Kredite.

Die Verletzlichkeit unserer Länder... also, aller außer dem unseren. Das so zu sagen, ist mir peinlich, doch es ist nun einmal so, dass die Länder von dem abhängen, was vom IWF festgelegt ist, von den Krediten und den vom Währungsfonds aufoktroyierten äußerst schweren Bedingungen.

Das soll nicht heißen, wir hätten keine ökonomischen Probleme; ich sage, uns binden nicht die unüberwindbaren Fesseln des übrigen Lateinamerika.

Journalist: Es sind nicht die gleichen.

Fidel Castro: So war jene Empörung, die Sie nannten, doch mehr eine vereinzelte. Obwohl die Auslandsschuld existierte, die damals bereits 300 Milliarden Dollar betrug — fast ein Drittel des heutigen Betrages —, gewinnt Allende 1970 die Wahlen.

Journalist: Ja, Allende übernahm Ende 1970 die Regierung.

Fidel Castro: Noch lag die Auslandsschuld Lateinamerikas darunter, doch von da an beginnt sie zu wachsen, steigt und steigt und erreicht bereits 1985 eine Höhe von annähernd 300 Milliarden. Die heute die Unruhe und Unzufriedenheit bestimmenden Faktoren sind auf dieser Erdhälfte viel stärker präsent. In der Hemisphäre Süd, in der Karibik, in Zentralamerika, in Mexiko gibt es bereits keine Oasen mehr. Für unsere Länder trägt dies internationalen Charakter. Die Empörung erstreckt sich auf viel breitere Kreise. Noch war es nicht zur heutigen Etappe der neoliberalen Globalisierung gekommen, die schrecklich ist, eine Etappe der — wir könnten sagen — gewaltsamen Privatisierung sämtlicher Güter; eine Etappe sehr harter Maßnahmen, die die lateinamerikanischen Landeswährungen zur Flucht um jeden Preis verurteilen. Die Pflicht des Geldes besteht in der Flucht. Es ist logisch, denn keine lateinamerikanische Währung, ob redlich oder unlauter erworben, gewährleistet die Stabilität ihres Wertes; sie gewährleistet sie ganz entschieden nicht. Sogar ein Land, das über wenige Jahre seine Währung mit einem Paritätswert zum Dollar halten konnte, wie beispielsweise der Real – nun weiß ich nicht, welche von beiden wir zuerst hatten, den argentinischen Peso oder den brasilianischen Real; können Sie sich erinnern? Stellen wir den Peso vor den Real. Zuerst geriet der Real und dann der Peso in die Krise. Beide hatten Illusionen geweckt zu einem Zeitpunkt, da die Menschen der Inflation überdrüssig waren und nach einer stabilen Währung verlangten, denn jene kolossale und unkontrollierbare Inflation war zu einem wahren Albtraum geworden. Eine progressive Inflation hat es seit jeher gegeben; sie ist eine historische Tendenz. Ein Dollar heute müsste einen Wert von mehr oder weniger zehn Cent eines Dollar von vor vierzig Jahren haben.

Journalist: Ja, von 1971, als Nixon ihn als nicht konvertibel erklärte.

Fidel Castro: Früher konnte man für zwei Cent, ja sogar für einen Cent etwas kaufen, nicht wahr? Jetzt dient dieser eine Cent lediglich der Werbung, 10,99 $ anstatt 11,00 $ oder 99,99 $ anstatt 100,00 $, um die psychologische Wirkung von etwas Billigerem zu erzeugen.

Welche Währung ist stabil? Gold war eine Währung, wie für die Azteken der Kakao eine Währung war; doch sie hatten einen Wert per se, einen Wert an sich, das Gold und der Kakao; und die Welt hat für die Produktion dieses Tauschmittels, das das Gold war, wer weiß wieviel Geld ausgegeben.

Ich meine, die Idee anderer Tauschmittel, eines Symbols des Geldes, ist eine gute Idee. Doch die Sache ist die, dass das Symbol zu etwas geworden ist, das nach Belieben emittiert wird; ein Symbol, das außerordentlich missbraucht wurde, auch von den US-Amerikanern, denn sie gehören zu jenen, die die meisten Banknoten ausgegeben haben und ihren Umtausch in Gold einstellten, wie Sie sagten.

Nun, hier gehe ich eventuell zu weit, doch ich wollte Ihnen aufzeigen, dass die Umstände ganz andere sind und dass es aufgrund all dieser Faktoren und weil das Geld abfließt und abfließen muss es keinen Ausweg gibt. Der erzwungene Verzicht auf eine Devisenüberwachung ist ein tödlicher Mechanismus. Jegliche Instabilität, jegliches interne Problem, jegliches wirtschaftliche Problem, ein Sinken der Preise, ein Exportdefizit, ein Haushaltsdefizit schafft alle Voraussetzungen, und das Geld wandert nur noch schneller ab. Empfohlene oder eher von der gegenwärtigen Wirtschaftsordnung auferlegte Gegenmaßnahmen: Erhöhung der Zinsen, damit das Geld nicht abfließt; sie erhöhen auf 40 %, auf 50 %, und dann müssen sie es zu 52 %, zu 55 % verleihen; dabei gibt es kein Land, das sich mit einer Anleihe halten kann, für die es 50 % Zinsen für Arbeitskapital, Investition, Erweiterung zahlen muss. Es gibt es nicht.

Als es in Südostasien zur Krise kommt, senkte Mahathir — er hatte eine Devisenüberwachung festgelegt — beispielsweise den Zinssatz, der zu jenem Zeitpunkt 14 % betrug, auf 7 %, um aus der Währungsschrumpfung heraus zu kommen, die Menschen arbeiten zu lassen, Arbeitsplätze zu schaffen und die Wirtschaft funktionsfähig zu halten. In dieser Hinsicht ist die Situation Lateinamerikas eine furchtbare.

Sehen Sie, als ich das letzte Mal hier war — Sie wollen mich bitte entschuldigen, ich nehme mir noch eine Minute Zeit ...

Journalist: Alle Zeit, die Sie brauchen.

Fidel Castro: Ja, nur möchte ich mich nicht mit jenen anlegen, die mich erwarten.

Journalist: Wir sind es nicht, die es eilig haben ...

Fidel Castro: Meinetwegen, sehr gern; ich würde auch drei Stunden hier sein.

Als ich vor 44 Jahren zum ersten Mal Argentinien besuchte, betrug die Auslandsschuld Lateinamerikas fünf Milliarden, und mir kam der Gedanke – stets kommt man auf bessere oder schlechtere Ideen -, den ich darlegte: Lateinamerika muss sich entwickeln; es herrscht eine sehr große Armut. Man sprach über den Marshall-Plan als Beispiel von Entwicklungshilfe eines Landes, das über mehr Mittel verfügt, und ich sagte: „Lateinamerika braucht einen Marshall-Plan" und nannte dabei den Betrag von 20 Milliarden Dollar für die Wirtschafts- und soziale Entwicklung Lateinamerikas. Ich weiß nicht, ob ich gut oder ungut daran tat; ich könnte Gewissensbisse spüren; doch ich glaube, die Darlegung war in Ordnung, richtig. Als US-amerikanischer Vertreter war Rubotton — wenn ich mich recht auf seinen Namen besinne - anwesend.

Und wer hätte es gedacht, eben das tat dann Kennedy.

Journalist: Danach, in der Allianz für den Fortschritt.

Fidel Castro: Ja sogar eine Agrarreform.

Die erste führten wir im Mai 1959 durch. Gegen Jacobo Arbenz starteten sie wegen der Durchführung einer Agrarreform einen Feldzug; und was hinterher kam, was davon übrigblieb, waren 200 000 Tote; darunter und ohne zu übertreiben 100 000 Vermisste. So steht es in Berichten und Studien, die von sehr zuverlässigen Leuten angefertigt wurden, von denen einige für das Niederschreiben dieser entsetzlichen Zahlen sterben mussten.

1985 betrug die Auslandsschuld 300 Milliarden. Wir gingen gegen diese Verschuldung ins Gefecht, denn wir sahen ab, was kommen würde. Etwas konnte erreicht werden, denn sie hatten einen kleinen Schrecken bekommen und begannen, kleine Auswege zu erfinden, die Brady-Schuldverschreibungen usw. usf.; doch nun müssen die Brady-Schuldverschreibungen zurückgezahlt werden.

Heute nun sind die Schulden auf 800 Milliarden aufgelaufen. Die Weltbank gewährt bereits keine weichen Kredite mehr, sondern widmet sich den Hilfeleistungen, und der Währungsfonds wird immer unbeugsamer und gestattet gar nichts. Dabei sind die Schulen, die Krankenhäuser, die Sozialfürsorge stets die ersten Leidtragenden, wenn es um Kürzungen des Etats geht. Das erzeugt eine große Unzufriedenheit.

Wir haben viele Zusammenkünfte mit Lehrern gehabt. Tausende Lehrer und Erzieher besuchen Kuba, um u.a. auch unsere Erfahrung kennen zu lernen. Woran sie kranken, ist am fehlenden Budget: Es gibt keinen Etat für Bleistifte, für dieses und für jenes. Bei den Ärzten ist es das Gleiche, in allen Bereichen. Immer sind es die sozialen Leistungen, die zuerst alles auszubaden haben.

Außerdem war es 1959, nach dem Sieg der Revolution, da ich die 20 Milliarden vorschlage; 20 Milliarden, deren Wert viel höher war. Möglicherweise kommen sie heute 80 Milliarden gleich, und das bei sehr vorsichtiger Berechnung.

Die Auslandsschuld heute beträgt mindestens 800 Milliarden. Der für den Schuldendienst benutzte Anteil des Haushals liegt in einigen Fällen höher als 50 %. Das hält kein Land aus.

Unter diesen Umständen ist die Kapitalflucht etwas Zwingendes; denn hat man 100 000 Dollar in Gold, dann kann man dieses vergraben, aufbewahren, doch besitzt man sie in Banknoten der Landeswährung, dann tauscht man diese gegen Dollar ein und nimmt sie mit. Da zwangsläufig der Freihandel existiert, das „Sesam-Öffne-Dich", sind die Türen offen, und die Leute nehmen das Geld mit, denn es gibt eine Währung, die mittelmäßig stabil ist, der Dollar, und das aufgrund seiner Wirtschaftskraft, der Vorrechte von Bretton Woods, wo sie sich außerdem zur Golddeckung dieser Währung verpflichtet hatten.

In der Zeit des Vietnamkrieges, der 500 Milliarden ohne Steuer kostete, kam es zu enormen Problemen, und Nixon beschließt einseitig, die Konvertierbarkeit des Dollars einzustellen, was zu einem furchtbaren Problem in der Valutaspekulation führte, so dass tagtäglich Spekulationsgeschäfte in Billionen Dollar getätigt werden. Es gibt bereits keine sichere Währung mehr.

Großbritannien, König der Finanzwelt mit seinem Pfund Sterling, wertete in einem Spekulationsgeschäft sein Pfund Sterling ab.

Journalist: Herr Präsident, was Sie hier beschreiben, sind alles missliche Bedingungen. Weshalb meinen Sie nun, für Lateinamerika sei ein guter Zeitpunkt da?

Fidel Castro: Wegen jenes Protestes, von dem ihr spracht und von dem ich sagte, er habe unter anderen Bedingungen stattgefunden und sei relativ vereinzelt gewesen. Heute nun sieht man die Verallgemeinerung des Protestes, sämtliche Länder Lateinamerikas einbeziehend. Es ist eine Situation entstanden, die ich als unhaltbar bezeichne und die dazu noch unerträglich ist. Es sind nun die objektiven Bedingungen geschaffen, die eine Reihe politischer Ereignisse erklären. Es ist dies überall zu sehen.

Journalist: Glauben Sie nun, Herr Präsident, diese Bedingungen des Aufruhrs oder der Ungeduld, wie Sie sagen, werden mit der Zeit zu halten sein oder läuft Lateinamerika Gefahr — Beispiel Kolumbien — in Richtung weniger demokratischer Demokratien, bevormundeter Demokratien oder einer Wende zu Autoritärem? Hängt nicht dieses Risiko über Lateinamerika?

Fidel Castro: Sehen Sie, diese ist eine komplizierte Frage. Doch ich meine, Gewalt scheint nicht der unvermeidliche Weg zu sein. Alles hat sich stark verändert, es gibt vollkommen neue Phänomene.

Konkret in Kolumbien besteht das alte Problem der Gewalt. Auf unserer Erdhälfte gibt es zwei bis drei neue Phänomene. Eines davon ist: keinem der Militärs mit gesundem Verstand kommt heute als Lösung der Probleme ein herkömmlicher Staatsstreich in den Sinn. Es war dies stets die Formel, zu der der Imperialismus griff. Auch in den Köpfen hat es einen Wandel gegeben. Die Militärs wissen um die außerordentlich explosive soziale Situation. Ich hatte nicht gesagt, dass zur Zeit der in Buenos Aires beantragten notwendigen 20 Milliarden für die sozioökonomische Entwicklung die Bevölkerungsanzahl 250 Millionen betrug. Heute sind es 524 Millionen; sie ist also enorm angestiegen. Die Beschäftigung, die ein Wachstum verzeichnet, ist nicht die formelle; es wächst im wesentlichen die informelle Beschäftigung. Ein jeder sucht sich Arbeit, so gut er kann. Das ist ausreichend bekannt.

Heute, am Eingang eines sehr schönen Parks forderte eine Frau von meinen Begleitpersonen einen Platz, das heißt, eine Stelle, „um etwas zu verkaufen", wie sie fast schmerzlich sagte.

Nur 20 % der neuen Arbeitsplätze tragen formellen Charakter. Selbst die moderne Industrie mit den neuen Technologien, weit davon entfernt, die Anzahl der Beschäftigten zu erhöhen, verringert die Arbeitsplätze.

In Kuba haben wir Fälle wie den einer Fabrik, die zur Produktion von beispielsweise Gewebe zum Abdecken der Tabakpflanzungen früher 300 Arbeiter beschäftigte, und heute sind es 50; die doppelte Produktion mit einem Sechstel der Beschäftigten. Kommt man heute in ein auf Gasbasis arbeitendes Wärmekraftwerk mit kombiniertem Zyklus, sieht man von den Hunderten von Arbeitern der in den auf Kohle- oder Erdölbasis arbeitenden traditionellen Wärmekraftwerken nicht einen einzigen. Was man sieht, sind ein paar Ingenieure, 15 bis 20 Ingenieure, die in klimatisierten Räumen einige Knöpfe betätigen.

Oftmals habe ich Überlegungen angestellt. Wollen wir doch einmal annehmen, das FTAA bringe einem beliebigen lateinamerikanischen Land eine enorme industrielle Entwicklung; nehmen wir an, gleich der Entwicklung in Deutschland. Nicht gern erwähne ich die einzelnen Länder, denn man geht dabei immer das Risiko ein, der Einmischung angeprangert zu werden, so dass man fast kein Thema aus praktischer oder theoretischer Sicht behandeln kann. In diesem Falle bleibt mir nichts anderes übrig, als ein Beispiel zu nennen.

Nehmen wir also an, ein großes und begütertes Land wie Argentinien erreicht den heutigen Entwicklungsstand Deutschlands. Damit hätte es aber nicht das Problem der Beschäftigungslosigkeit aus der Welt geschafft, das doch einer der Krisenfaktoren war. Deutschland ist zwar das am weitesten entwickelte Land Europas, doch seine Tragödie ist die Arbeitslosigkeit, die 10 % der arbeitsfähigen Bevölkerung erfasst. In unserem Land stehen wir kurz vor dem Erreichen der Vollbeschäftigung. Von dem Standpunkt ausgehend, wonach das Anwachsen der Beschäftigung im Dienstleistungssektor liegen wird, kam uns die Idee, das Studium in eine Art Beschäftigung zu verwandeln. Zur großen Zufriedenheit der Bevölkerung geht es damit voran. Ganz sicher gibt es andere Rezepturen, die nicht unbedingt kubanischer Herkunft sind. Angesichts der Notwendigkeit sahen wir uns gezwungen, Neues zu ersinnen.

Also, ich bin FTAA-Gegner, das ist recht wohl bekannt. Man müsste eine dem Wahnsinn ähnliche Fantasie besitzen, wollte man denken, das FTAA bringe Lateinamerika die Industrialisierung und nicht den Ruin.

Journalist: Herr Präsident, wie Sie sagen, scheint der Weg nicht die Gewalt zu sein.

Fidel Castro: Ich sage, ich sehe die Gewalt nicht als das große Gespenst. Ich meine die bewaffnete Gewalt. Ich sehe die breiten Massen, und diese beginnen Dinge zu tun, die sie vordem nicht taten.

Ich kann ein Beispiel anführen: Iran vor einigen Jahren. Der Schah des Iran war der Gendarm der Vereinigten Staaten in der Region. Es war das mächtigste Land der Region, besaß die modernsten Waffen und war außerdem ein sehr reiches Land. Dennoch hat das von Khomeini geführte schiitische Volk unbewaffnet, ohne einen Schuss abzugeben, den mächtigen Schah gestürzt.

Als Südostasien in die Wirtschaftskrise geriet, gab es einen weiteren mächtigen Herrn mit einer riesigen und gut bewaffneten Armee, der sich Suharto nannte. Damals war er sehr geduldet, denn er hatte Hunderttausende Kräfte der Linken hingemordet. Das weiß alle Welt; es waren 800 000, eine Million oder 1,2 Millionen; und von heute auf morgen wurde er von den breiten Massen gestürzt.

Ich will mich nicht zu weit entfernen, doch auch nicht zu nahe bleiben. Vielleicht, wenn Sie etwas nachdenken, stoßen Sie auch auf Veränderungen hier in diesem Land, ohne dass sie in bewaffnete Gewalt ausgeartet wären; und das ist schon nicht mehr Indonesien, noch der Iran. Bedeutende politische Fortschritte ohne bewaffnete Gewalt; ich sage das mit aller Hochachtung vor diesem Land. Ich betrachte es als ein Beispiel, falls man mir das Denken nicht verbietet und falls keiner mir zürnt und sagt, ich mische mich in die inneren Angelegenheiten ein. Um die Frage zu beantworten, analysiere ich schlicht und einfach aus einem historischen und theoretischen Blickwinkel heraus.

Auch die Geschehnisse in Ecuador – man braucht sich gar nicht weiter weg begeben; eines Tages drang die indigene Bevölkerung in den Palast und veranlasste einen Regierungswechsel. Dabei trugen die Eingeborenen nicht eine Waffe, ebenso die Angehörigen des Militärs, die sich ihnen angeschlossen hatten. Wer in der heutigen Situation glaubt, die Probleme dieser Erdhälfte mit Waffengewalt aus der Welt schaffen zu können, denkt in prähistorischen Größenordnungen.

Journalist: Sie beziehen sich auf die Linke und auf die Rechte?

Fidel Castro: Angesichts einer Situation, die bereits unhaltbar geworden ist, denke ich dabei an alle, auch an die Mittelschichten. Diese spielen eine sehr bedeutsame Rolle, wenn es zu bestimmten nationalen und internationalen Situationen kommt. Für die heutige herrschende Ordnung sind die Mittelschichten gefährlich, denn sie verfügen über Wissen.

Oftmals konnte ich miterleben, wie die Ärmsten der Armen an Leid, Betrug und Unterdrückung gewöhnt sind. Doch wenn einem Angehörigen der Mittelschichten sein Vermögen konfisziert wird, dann wird das Problem ein sehr ernstes. Ich brauche euch darüber nichts zu erzählen. (Lachen) Ich will keine Namen nennen, doch es gibt neue Erscheinungen, die nicht nur lokalen Charakter tragen, sondern weltweit zu verzeichnen sind. Auch neue Dinge gibt es, neues Wissen. Es existiert eine große Unwissenheit einerseits, doch gibt es auch viele Absolventen der Universitäten, die diese mit Kenntnissen verlassen. Es ist schrecklich, kein Wissen zu besitzen, dem doch eine Schlüsselstellung gebührt. Wir sehen das an unserer eigenen Revolution. Heute ist unsere Bevölkerung eine andere, denn früher war es ein Land von 30 % Analphabeten, doch zählt man die Halb- und die Vollanalphabeten zusammen, dann waren es 90 %; denn in Kuba mit einer Bevölkerung von fast sieben Millionen hatten nur 400 000 den Abschluss der sechsten Klasse. Und was für eine sechste Klasse! Es ist entsetzlich, wenn die breiten Massen unwissend sind. Heute verfügen sie in steigendem Maße über Medien zu ihrer Information. Es stimmt, es gibt noch 860 Millionen Analphabeten auf der Welt, weil es die Vereinten Nationen, die UNESCO und die Regierungen nicht anders wollen, denn es war tatsächlich einfach und möglich, das Analphabetentum zu beseitigen.

Journalist: Das Wissen ist eine weitere Form der Unterdrückung.

Fidel Castro: Heute sind die Träger des Wissens in der Hauptsache die Mittelschichten. In Kuba nennen wir sie Geistesarbeiter. Sie sind eng mit der Revolution verbunden. In der übrigen Welt erlangen sie immer stärker das Bewusstsein, dass die bestehende Ordnung die Welt in eine Katastrophe führt.

Noch etwas: Internet. Das Internet tauchte auf, und die Bedeutung der großen Ketten ist geschrumpft. Der Alleineinfluss der früher monopolisierten Organe hat abgenommen, denn durch die Einführung und Verbreitung des Internet, zu dem viele Personen der Mittelschichten Zugang haben, sind heute die Möglichkeiten der Übermittlung anderer Information enorm gestiegen.

Seattle. Wer war der Organisator? Es waren Leute der Mittelschichten: Kanadier, US-Amerikaner, Lateinamerikaner; sie taten sich zusammen und schlugen dort eine beeindruckende Schlacht. Es war keine kriegerische Schlacht. Was kriegerischen Anschein trug, waren die Schutzmaßnahmen, das Tränengas, die eingesetzten repressiven Methoden. Und in Quebec? Nun, die politischen Führungspersönlichkeiten waren in einer Festung eingeschlossen, doch das Tränengas drang durch den sie schützenden kriegerischen Drahtverhau hinein.

Wenn sie sich an das letzte Treffen in Davos erinnern, einige Fotos aus dem Ersten Weltkrieg sind Ihnen auch bekannt, so sehen Sie, dass sich die beiden Festungslinien ähneln: Die Schützengräben ähnelten denen der Schlachtfelder bei Verdun und Marne, verlegt in die friedliche Schweiz. Also zogen sie um nach New York, und vergangenes Jahr, nach den Ereignissen des 11. September, fühlten sie sich in New York sicherer als in der Schweiz. Doch auch in New York sollten sie sich nicht sicher fühlen, Ruhe zu finden, denn die Organisatoren der Kundgebungen haben diese sowohl in Washington gegen die Weltbank, gegen den Währungsfonds als auch in Genua gegen das Treffen der Acht veranstaltet. Bald werden sie im Begriff sein — und ich glaube, hier gibt es einen Zusammenhang mit der verstärkten imperialistischen Aggressivität —, im neuen Weltraumlabor ein kleines Lokal für das Treffen der Gruppe der Acht oder der Neun oder noch einiger anderer Oberhäupter zu errichten, denn Kanada hat ja bereits Treffen auf sehr hohen Bergen organisiert.

Journalist: Das ist wahr.

Fidel Castro: Am Ende werden sie auf dem Himalaja zusammenkommen. (Lachen) Das wird aber sehr teuer werden!

So verfällt die Welt also in eine Situation, in der sich nicht einmal mehr die Herren unseres Planeten treffen können. Deshalb sage ich, die Krise trägt weltweiten Charakter. Deshalb sagte ich vordem, dass andere Merkmale zu verzeichnen sind.

Sehen Sie einmal Kosovo. Ich kann Ihnen etwas versichern, worüber ich sehr gut Bescheid weiß. Die Kriegsoffensive war für sieben Tage geplant, und ihren Ausgang findet sie am Tag Nummer 79, als bereits Bodentruppen eingesetzt werden mussten, und die jugoslawische Armee war trotz der Tausenden gefallenen Bomben intakt. Von früher her haben sie Erfahrung im irregulären Kampf. Sie boten der Hitlerarmee die Stirn und taten damit der Sowjetunion einen Riesengefallen. Sie verzögerten den Angriff um einige Wochen, die entscheidend sein konnten, und sie hielten stand. Die Nazis hatten 30 oder 40 Divisionen in Jugoslawien, wobei sie diese in Stalingrad oder vor der Gegenoffensive brauchten. Sie verfügen also über diese gesamte gereifte und modernisierte Erfahrung. Wie hatten sie es geschafft, dass die Armee faktisch intakt blieb? Zur Invasion mussten bereits die Bodentruppen eingesetzt werden, und das ist nun schon etwas ganz anderes, wenn man Kriege ohne Verluste führen will.

Ich erinnere mich, wir kämpften gegen die Südafrikaner; damit meine ich das Apartheidregime. Kam die indigene Bevölkerung zu Tode, die sie in Namibia und Angola rekrutierten, so war das für sie kein Problem. Doch fiel ein Weißer, zwei oder drei, war es das reinste Chaos. So entwickelt sich die Mentalität der Kriegführung ohne Verluste, was in einem irregulären Krieg äußerst schwierig ist.

Journalist: Wenn Sie mir gestatten, zu unseren Ländern zurückzukehren.

Fidel Castro: Richtig. Sie entschuldigen; da wir aber nun einmal darüber sprachen.

Journalist: Nein, ich wollte es nur sagen.

Fidel Castro: Das heißt, da Kolumbien genannt wurde, ob dasselbe passieren würde.

In Brasilien wird es nicht so sein wie in Kolumbien. Die Bewegungen von heute sind Streikbewegungen, Massenbewegungen, Mobilmachungen. Niemandem würde es einfallen, für eine Machtergreifung zu bewaffneter Gewalt zu greifen. Die Militärs sind sich dessen ausreichend bewusst. Es ist eine neue, von einer großen Krise gezeichnete Epoche. Wer wird schon eine große Krise geschenkt haben wollen. Die Methoden zur Erhaltung der Ordnung müssten von Mal zu Mal schlimmer werden. Hinsichtlich der Repression hat man den übelsten Punkt bereits erreicht, übler geht es nicht. Es gibt bereits viele Formen, wie die Menschen über gewisse Privilegien erfahren. Internet gibt es schon überall, und die Möglichkeit der Übermittlung von Nachrichten ist etwas ganz Reales. Ich kann das von Kuba aus sagen.

Die Möglichkeiten, über die wir heute verfügen, um Nachrichten, Ideen, Argumente zu übermitteln, gab es vor einigen Jahren noch nicht.

Journalist: Mein Herr, ich werde Ihnen eine Frage stellen, damit Sie nicht eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines anderen Landes zu riskieren brauchen.

Fidel Castro: Die meines Landes.

Journalist: Am 1. Januar nächsten Jahres werden Sie auf 45 Jahre revolutionären Sieg zurückblicken.

Fidel Castro: Ja, auf das, was ein Sieg der Revolution schien; doch all das mußte noch organisiert werden.

Journalist: Es war aber doch ein Sieg der Revolution.

Fidel Castro: Der Sturz jenes Regimes und die Übernahme der Regierung durch ziemlich unerfahrene Leute, die damit zu tun hatten.

Journalist: Wie stellen Sie sich im Rahmen Ihrer gesamten Erklärung über die neuen Perspektiven Lateinamerikas den Übergang in Kuba vor?

Fidel Castro: Auf welchen Übergang beziehst du dich; auf den, den wir bereits hinter uns haben, oder auf einen neuen?

Journalist: Auf den neuen.

Fidel Castro: Und in welche Richtung sollte dieser gehen? Sagen Sie mir, in welche Richtung? Bringen Sie mir ein besseres Modell, und ich schwöre Ihnen, dass ich alles Mögliche dafür tun werde. Ich würde noch einmal 50 Jahre lang für das neue Modell den Kampf aufnehmen. (Lachen)

Journalist: Hier gab es jemanden, der sagt ...

Journalist: Mein Herr, wenn Sie mir eine Klärung gestatten.

Wenn es sich um eine historische Persönlichkeit wie Sie handelt, dann sind es die anderen, die an eine Etappe nach dieser historischen Persönlichkeit denken.

Wir stellen nun diese Frage: Wie stellen Sie sich die Zukunft Kubas vor, wenn Castro nicht mehr zum Szenarium gehört?

Fidel Castro: Diese Frage stellen sich viele, und ich stelle sie mir auch.

Journalist: Darum eben.

Fidel Castro: Ja, doch zu meinen, Castro sei alles, ist ein Irrtum; denn Sie sagen: Castro macht dies..., Castro hat die Idee gehabt. Ich kann mir beispielsweise anrechnen, und das mit Ehrgefühl — nur möchte ich nicht im Geringsten persönliche Dinge hervorheben — die Idee gehabt zu haben, wie das Batista-Problem zu lösen war, als es am 10. März zum Staatsstreich kam. Wir hatten weder Geld noch Waffen und standen einer starken Streitmacht gegenüber. Außerdem hörte keiner viel auf uns, denn die gestürzte Regierung besaß viele Mittel sowie die Unterstützung einiger Offiziere der Armee.

Wir entschieden, dass das Problem trotz allem gelöst werden konnte.

Es liegt kein großes Verdienst in Dingen, wo viel Zufall im Spiel war. Denn Sie könnten mich fragen: Warum nehmen Sie diese Stelle ein? Darauf kann ich also sagen: Es ist neben anderen Dingen eine Frage des Schicksals, des Zufalls.

Nun gut, einige Ideen waren da. Das Wie der Lösung dieses Problems war recht schwierig, und man ging auch ein hohes persönliches Risiko ein; doch es konnte realisiert werden.

Danach kamen andere Probleme, wie die 30 Jahre währende Wirtschaftsblockade, dann die Spezialperiode, eine weitere innerhalb der harten Blockade, die wir erlitten und die verschärft worden war. Auf das Überleben der Revolution unter diesen Bedingungen setzten niemand auch nur einen Centavo.

Hätte man eine reale und der Wahrheit entsprechende Information, könnte an uns alle mögliche Kritik geübt werden, die man wollte; doch dann verstünde man auch, dass, wären wir so wie man uns darstellt, wir nicht den Rückenhalt durch das Volk hätten, das eine Schlüsselstellung eingenommen hat in einem Umfang wie er nach meinem Dafürhalten noch nie dagewesen ist, und das nicht aus Fanatismus, denn wir sind keine Chauvinisten, keine Fundamentalisten. Wir haben eher unsere Bevölkerung im Sinne der internen und der Solidarität nach außen erzogen. Letztere nennen wir Internationalismus.

Hunderttausende Kubaner erfüllten internationalistische Missionen. Ich sprach über jenen Kampf gegen Südafrika in Angola. Dieses afrikanische Land ist weiter von Kuba entfernt als Moskau von Havanna, denn der Weg führt über den Äquator. Sieht man sich die Karte an, scheint jenes näher zu liegen. Von Havanna nach Luanda sind es 14 Flugstunden, eine reichliche Stunde mehr Flugzeit als von Havanna nach Moskau.

In einer Entfernung von mehr als 14 Flugstunden haben wir einen harten Kampf gekämpft. Einige Gefechte wurden an der Grenze zu Namibia ausgetragen, also in einer noch größeren Entfernung. Kuba ist ein kleines Land, und Sie sollen wissen, dass wir all das aus unseren eigenen Mitteln finanzierten. Die Handelsschiffe waren die unseren, denn wir verfügten bereits über eine Handelsflotte. Sie dürfen nicht denken, es sei auch nur ein einziges Bataillon mit einem sowjetischen Schiff transportiert worden.

Das heißt, Hunderttausende, mehr als eine halbe Million unserer Mitbürger, waren auf die eine oder andere Art als internationalistische Helfer tätig, denn an Ärzten waren es mehrere Zehntausende; auch Bauarbeiter und Lehrer, wo sie gefragt waren. In Nicaragua waren 2000 Lehrer in den Bergregionen im Einsatz. Einige wurden ermordet. Zur Auswahl von 1000 Lehrern hatten sich 30 000 gemeldet. Danach sollten 2000 geschickt werden; und als einige ermordet worden waren, meldeten sich 100 000 zum Einsatz.

Wenn die Menschen nicht von einer Idee getragen werden, dann werden ihnen mitunter chauvinistische Gefühle, Fanatismus, Rassismus und was auch immer eingeschärft. Unser Land hält sich auf der Basis von Ideen. Wir hätten sonst gegen jenes Monster nicht bestehen können. Es hätte uns mit seinen Medien, seiner Blockade, seinem Zur-Schau-Stellen der Güter zerfressen.

Ich sage nur das eine: Man kann an uns alle mögliche Kritik üben und zu allen Aspekten Meinungen vorbringen; doch das Problem liegt darin, dass man Kuba über eine Information kennt, die über lange Zeit mit Einsatz aller Technik entstellt wurde, um die Wahrheit zu verzerren und Lügen zu verkaufen.

Früher nahmen wir die Schläge entgegen und hatten keine Munitionen, diese zu erwidern. Im Land selbst gab es Zusammenhalt und Unterstützung auf der Basis von Ideen, Wahrheiten und Prinzipien. Dadurch konnten wir Ergebnisse erzielen. Deshalb fragte ich Sie: Ein Übergang? In welche Richtung? Dorthin, was wir in unserem Umfeld sehen, was wir in der Welt sehen? Aus gewichtigen ethischen Gründen und aus Vertrauen will ich nicht all das aufzählen, was wir haben. Sie wissen, dass man sie niemals belügen wird, denn es ist dieses ein heiliges Prinzip; die Menschen in unserem Land kennen die Spielregeln.

Es werden Bücher geschrieben, in denen behauptet wird, in Kuba werde gefoltert und noch vieles andere getan. Wir wissen auch, wer so etwas schreibt und wer dazu veranlasst hat.

Daraufhin haben wir gesagt: „Wir geben alles, das Wenige, was wir haben, geben wir jenem, der beweisen kann, dass es in unserem Land auch nur einen einzigen Folterfall gegeben hat."

Bücher dieser Art gibt es bergeweis, doch man konnte uns nichts anhaben. Zu unserer Verteidigung haben wir uns bereits einen Panzer zugelegt.

Journalist: Herr Präsident, Sie erwähnten die interne Situation in Ihrem Land, erwähnten die Formung der Menschen durch Ideen, Wissen, Freiheit; doch nun kam es auch unlängst zu einem Ereignis, das weltweit starken Anstoß fand, nämlich die Hinrichtung der Dissidenten. Wie kann man diese Entscheidung erklären?

Fidel Castro: Wir mussten nach Gesetz und Gerichtsentscheid handeln, keine außergerichtlichen Hinrichtungen; und wir taten es mit tiefer Betrübnis. Wir kannten ja den Preis, doch man musste wählen, entweder man lässt ihre Machenschaften zur Schaffung eines Konfliktes durchgehen oder man trifft Maßnahmen zu seiner Vermeidung, denn es gibt Leute dort, die darauf bedacht sind, einen Konflikt zwischen den Vereinigten Statten und Kuba herauf zu beschwören und den Konflikt mit Kuba auf die gleiche Weise beizulegen wie in Bagdad und Abertausende Bomben, Flugzeuge und Raketen gegen Kuba einzusetzen.

Journalist: Wo kam es zur Entstehung dieses Konfliktes?

Fidel Castro: Da, in den Vereinigten Staaten.

Felipe Pérez: Er sprach von den Meldungen über die „Hinrichtung von Dissidenten" in Kuba.

Fidel Castro: Ach so, ich habe überhört, dass er diesen Begriff gebrauchte; vielen Dank, Felipe. Es ist diese eine der größten Verwechslungen, die im internationalen Rahmen bestehen. Es handelt sich hierbei um zwei vollkommen verschiedene Dinge. Jene, die Flugzeuge und Schiffe gewaltsam an sich brachten, sind gemeine Verbrecher. Sie haben mit dem Problem der sogenannten „Dissidenten" absolut nichts zu tun. Den Begriff setze ich in große Anführungszeichen und will dazu nicht viel mehr hinzufügen.

Also, hier ein weiterer wichtiger Aspekt, der von mir angesprochen wurde: die geplante Provokation. Während einer der sitzungsfreien Perioden des Kongresses wurde zum Staatsuntersekretär für Lateinamerika ein Herr ernannt, dessen Vorleben das eines absoluten Gangsters ist. Er gehört zu den besten Freunden der radikalen kubanisch-amerikanischen Mafia und war außerdem zum Leidwesen aller, Sie und wir eingeschlossen, der Autor eines großen Wahlbetruges.

Es ist mir unerklärlich, wie man dort in den Vereinigten Staaten von Demokratie reden kann. Alle Welt weiß genau, wie man den Gegenkandidaten um die Stimmen gebracht hat, kennt den Trick der geänderten Reihenfolge der Kandidaten, um den Irrtum herbeizuführen; die Afroamerikaner, die nicht wählten, weil ihnen schlicht und einfach der Zutritt zu den Wahllokalen verwehrt wurde; und so raubten sie mehrere zehntausend Stimmen, wodurch Bush dann die betrügerische Wahl mit einigen hundert Stimmen Vorsprung gewinnen konnte; ganz abgesehen davon, dass die Negerbevölkerung dort Restriktionen ausgesetzt ist, wobei mitunter schon ein Strafzettel zum Verlust des Stimmrechtes führen kann.

Journalist: Sie mischen sich nicht in die Angelegenheiten anderer Länder ein, eines ausgenommen.

Fidel Castro: Nun ja, ja.

Journalist: Von diesem sprechen Sie.

Fidel Castro: Nein; ich spreche nicht von dem Land, ich spreche von einer Regierung. Dem US-amerikanischen Volk zolle ich Hochachtung, aufrichtige Achtung.

Journalist: Darf ich die Frage, die ich Ihnen gestellt hatte, weiter verfolgen?

Fidel Castro: Ja, ich bin bereit, Ihnen zu diesem Thema zu beantworten, was Sie wissen möchten.

Ich hatte gesagt, dass man zwei verschiedene Aspekte miteinander vermischt hatte — es ist vielleicht sogar für Sie selbst wichtig, den Faden nicht zu verlieren. Zusammengebracht wurde das Problem der sogenannten Dissidenten mit der seltsamen, ja sehr seltsamen Tatsache, dass nach zehn Jahren, in denen es zu keiner Entführung von Passagierflugzeugen und –schiffen mit Geiselnahme gekommen war, ein Überfall stattfand, wobei den Piloten das Messer an die Kehle gesetzt wurde; genau wie bei jenen Geschehnissen in den Flugzeugen, die gegen die New Yorker Twin Towers und das Pentagon gerammt wurden. Wenn seitens der Supermacht eine enorme Kriegslust zu verspüren ist — ein Diplomat wird mit der spezifischen Aufgabe der Provokation von Zwischenfällen entsandt wird, deren Endziel die Zerschlagung einer immer stärker werdenden Bewegung innerhalb der Vereinigten Staaten ist, die gegen die Blockade, das Reiseverbot nach Kuba und die Schaffung von Bedingungen für eine bewaffnete Aggression — dann hat man keine andere Alternative als diese Pläne an der Wurzel zu packen. Früher mischten sich die Leiter der Interessenvertretung in die inneren Angelegenheit ein, doch dieser kam mit der gut durchdachten Anweisung, eine starke Provokation auszulösen.

Journalist: Wir sprechen vom Leiter der US-amerikanischen Interessenvertretung, nicht wahr?

Fidel Castro: Dem neuesten. Er kam etwa im September 2002. Es ist unglaublich. Ich tadele unsere eigenen Leute, nicht vorher informiert zu haben, wie weit jener Mann gegangen ist. Dieser bereist die Insel, weil er sich angeblich um das Schicksal jener zu kümmern hatte, die bei dem Versuch der illegalen Ausreise in die Vereinigten Staaten auf See gefasst und nach Kuba zurückgeführt wurden, wie es im Migrationsabkommen festgelegt ist. Vereinbart ist, dass die Zurückgeführten keinen Repressalien ausgesetzt sein werden. Während der Dauer des Abkommen hat es bislang keine einzige Verletzung dieser Vereinbarung gegeben. Es war mitunter nicht ganz einfach, das können Sie glauben. Man konnte erleben, wie es in einer Universität fast zum Aufruhr kam, denn sie wollten nicht akzeptieren, dass dieser oder jener Mitarbeiter nach seiner Rückführung dort wieder eingestellt wurde. Mitunter mussten wir uns nach einer Alternativlösung umsehen, denn wir wollten uns doch nicht mit einer Universität anlegen, die ihre Ehre verteidigt. Also musste für ihn eine gleichwertige Arbeit gefunden werden. Doch die strikte Einhaltung wurde durchgesetzt, auch wenn es sich bei vielen der illegal Ausreisenden um Personen handelt, denen die Vereinigten Staaten das Visum verwehren, denen sie wegen ihres Vorstrafenregisters niemals Visa erteilen würden. Es handelt sich hierbei generell um Personen mit gemeinen Vorstrafen. Die imperialistische Propaganda hat böswillig zwei vollkommen verschiedene Tatbestände zusammengebracht.

Am 14. März wird die Entscheidung getroffen, eine Gruppe der von der US-amerikanischen Interessenvertretung entlohnten Söldner zu verhaften, eine Gruppe der sogenannten „Dissidenten". Jener Mann — der Leiter der Interessenvertretung der Vereinigten Staaten in Havanna — hatte bereits die Insel systematisch bereist und konspiriert. Er sprach von einem neuen 6000-Meilen-Reiseprogramm und warb an und organisierte ganz offen konterrevolutionäre Gruppen. Mit sich führte er in verbotener Weise Koffer voller Radios und dem zum Empfang seines subversiven Senders erforderlichen Zubehör. Er schuf die sogenannten unabhängigen Bibliotheken, in denen auch zwei oder drei gute Autoren zu finden waren; alles andere war das reinste Gift, Literatur der übelsten Sorte und die übelste Propaganda.

So als sagten wir unserer Botschaft: Seht her, organisiert Bibliotheken in Argentinien oder Brasilien oder anderswo. Der Mann beabsichtigte de facto, als beglaubigter Prokonsul in Aktion zu treten; gibt herausfordernde öffentliche Erklärungen ab, die nicht zu akzeptieren sind. Das war, glaube ich, am 24. Februar in einem Apartment in Havanna, wo er sich mit einer Gruppe von Konterrevolutionären traf. Es waren diese Erklärungen eines politischen Führers.

Über die Fakten informiert, sprach ich am 6. März in der Nationalversammlung und antworte dem Individuum, er solle nicht meinen, wir würden das dulden und dass, wenn er seine Vertretung mitnehmen will und sie mit den Migrationsabkommen brechen wollen, uns nichts dergleichen den Schlaf raube. Es war eine harte Kritik.

In diesem Zusammenhang erklärte ich, dass das kontrollierende Sich-Bemühen um jene Personen nicht im Abkommen vereinbart ist. Es handelte sich ganz einfach um eine vorübergehende Geste der kubanischen Seite. Vorerst nichts weiter. Regeln, die sie und wir hinsichtlich der Bewegungsfreiheit des diplomatischen Personals einzuhalten hatten: Sie erbaten keine Genehmigung, sondern benachrichtigten drei Tage im Voraus. Wir ließen sie in einer diplomatischen Note wissen: „Diese Regel wird vorerst nicht fortbestehen. Es ist drei Tage im Voraus eine Genehmigung einzuholen, und nur nach deren Erhalt dürfen sie sich außerhalb der Hauptstadt aufhalten."

Was tat er darauf? Da er Havanna nicht mehr verlassen durfte, stellte er die Vertretung den Söldnern als Treffpunkt zur Verfügung. So wurde seine Einrichtung Versammlungsort, Kommandozentrale und Direktion der sogenannten „Dissidenten", die ausreichend mit Material und gastronomischen Leistungen versorgt wurden.

Lassen Sie es sich gesagt sein, wir verfügen über alle erdenkbaren Beweise: das Geld, das sie erhalten; auf welchem Wege sie es erhalten; denn unter diesen „Dissidenten" gab es natürlich auch, wie man sich denken kann, Revolutionäre, die es zu einem hohen Vertraulichkeitsgrad unter ihnen gebracht hatten. Für die Yankee-Verschwörer war die Enttäuschung eine furchtbare. Mit sämtlichen Beweisen aller Art in unserer Hand war ein Ableugnen unmöglich. Ich will hinzufügen, dass unsere Aktion begrenzt verlief. Alle Betroffenen sind schuldig, doch nicht alle Schuldigen sind betroffen.

Viele Freunde im Norden rieten uns: „Werft den Leiter der Interessenvertretung nicht hinaus; das ist es doch, was sie wollen." Wir wollten ihn auch nicht hinauswerfen, denn in all diesen Jahren haben wir noch nie einen Diplomaten dieser Vertretung hinausgeworfen, wie sie es in den Vereinten Nationen und in Washington zu tun pflegen.

Journalist: Herr Präsident, das hat nichts damit zu tun, dass die Belastung durch den kubanischen Staat als ungerecht angesehen wurde, wenn er für die aufständische Aktion die Beteiligten, die Kubaner bestraft und gegen die Anstifter nichts unternimmt, die, wie Sie anhand des Beweisstückes sagen, aus der US-amerikanischen Interessenvertretung stammen. Ist es nicht etwas ungerecht, über drei kubanische Bürger die Todesstrafe zu verhängen und ... nicht hinauswerfen zu wollen?

Fidel Castro: Wie ich sehe, habe ich mich nicht deutlich genug ausgedrückt, und es ist noch etwas unklar geblieben. Über keinen dieser sogenannten Dissidenten wurde die Todesstrafe, noch eine lebenslängliche Freiheitsstrafe, noch 30 Jahre Freiheitsentzug verhängt. Ihre Sanktionen bewegen sich je nach der Schwere ihres Verhaltens zwischen 28 und fünf Jahren. Auf Vaterlandsverrat im Dienste einer ausländischen Macht stehen noch viel härtere Strafen. Die Diplomaten der Interessenvertretung der Vereinigten Staaten in Kuba dienten ihrer Regierung, verletzten elementare diplomatische Regeln, doch sie begingen keinen Verrat an ihrem Land, noch stehen sie unter unserer Gerichtsbarkeit. Es gibt keinen möglichen Vergleich.

Die von den Gerichten ausgesprochene Todesstrafe wurde im Zusammenhang mit Akten der Entführung und Geiselnahme verhängt, die Dutzende unschuldiger Menschen, die nichts mit dem Konflikt zu tun haben, in drohende Todesgefahr brachten. Angeregt zu dieser Straftat gemeinen Charakters wurden sie von der Obrigkeit der Vereinigten Staaten, um damit einen Konflikt zu provozieren. Ihre Beweggründe waren andere, doch ihre Gefährlichkeit für das Land war eine Frage auf Leben oder Tod, wenn auch der bewusste und von der US-Regierung bezahlte Verrat moralisch gesehen noch schwerwiegender ist.

Journalist: Die das Schiff in ihre Gewalt brachten, die es entführten.

Fidel Castro: Ja, doch sie brachten das Schiff am 1. April in ihre Gewalt. Doch am 19. März, ganz zufällig am Tag des Kriegsausbruches, kommt es zur ersten Entführung. Eine Stunde vor Kriegsausbruch, etwa um 4.30 Uhr irakischer und 9.30 Uhr kubanischer Zeit – der Zeitunterschied beträgt sieben Stunden – wird ein kubanisches Flugzeug mit 39 oder 40 Passagieren an Bord, das von der Isla de la Juventud nach Havanna flog – es war der letzte Flug des Tages – von Subjekten entführt, die den Piloten scharfe Messer an die Kehle setzen.

Journalist: Ja, ja, ich kenne die Geschichte.

Fidel Castro: Sie entführen das Flugzeug nach Florida, und bei der Ankunft dort ergibt sich das Problem. Es war das erste Mal seit den Migrationsabkommen, dass so etwas vorkam. Die Subjekte mit den Messern werden festgenommen; die Komplizen erhalten Aufenthaltsberechtigung, und vier Tage später entscheidet ein Richter bedingte Freilassung für die direkten Entführer, Subjekte, die das Gleiche getan hatten wie jene der Katastrophe in New York. Bedingte Freilassung! Stellen Sie sich vor, ob das nun ein Problem war oder nicht! Denn es waren Personen mit gemeinen Vorstrafen. Ich hatte bereits erklärt, dass die Illegal Ausreisenden generell Personen sind, die niemals ein Visum für eine legale Einreise in die Vereinigten Staaten erhalten würden. Sie passen auf und sind selektiv. Ein Aufenthaltsvisum; ich weiß nicht, wie es in Argentinien ist, doch sicherlich wird es einem Antragsteller mit gemeinen Vorstrafen nicht erteilt.

Diese waren Leute mit gemeinen kriminellen Vorstrafen. Als Kuba die Meldungen über Freilassung gegen Kautionsstellung erreichten, wurde am 31. März ein zweites Flugzeug des gleichen Abflughafens mit 46 Passagieren an Bord von einem Subjekt entführt, der vorgab, eine Granate in der Hand zu halten. Im hinteren Teil des Flugzeuges sagt er: „Die Flugroute muss gewechselt werden." Schnell landete der Pilot die Maschine auf der Pistenmitte, und der Entführer mit der Granate in der Hand. Es wurde verhandelt.

Einige US-Behörden begriffen, dass es ein Wahnsinn war, und sie waren nicht recht damit einverstanden. Hier sah man deutlich entgegengesetzte Meinungen: Einige wollten die Provokation bis aufs Äußerste betreiben, und andere zeigten sich gemäßigter. Das wurde diskutiert. Vom State Department kam die sehr energische Verlautbarung, sie werden die Entführer bestrafen. Sie baten uns sogar, diese ihre Haltung bekannt zu geben. Wir taten es und sie — einige von ihnen — waren gegen die Landung in Florida; sie zogen einen benachbarten Bundesstaat vor. So, wie verfuhren wir? Es wurde erreicht, dass der Entführer einige Personen aussteigen ließ. Der für den Flug in einen anderen Bundesstaat benötigte zusätzliche Treibstoff wurde getankt. Sie ließen das Flugzeug in Key West landen, und dort treffen dann die entsprechenden Behörden die Entscheidung, ob es eine Untersuchung geben wird oder nicht. Die Passagiere erfuhren eine verächtliche Behandlung, sie wurden gedemütigt, das Flugzeug beschlagnahmt und ein Teil der Besatzung zurückbehalten. Die Komplizen der Entführung genossen Unbestraftheit.

Die Florida State ist ein halb eigenständiger. Dort wird getan, was die Mafiabosse und Handlanger Bushs wollen. Sie haben die Polizei, die Behörden, die Richter und die Staatsanwaltschaft in der Hand. Das bedeutete einen starken Anreiz für das Entführen von Passagierflugzeugen und –schiffen.

Sehen Sie, wir mussten uns mit der Untersuchung von Dutzenden von Fällen versuchter Entführung befassen. In wenigen Tagen untersuchten wir mehr als 35 Entführungsversuche, organisiert von gemeinen Verbrechern. Doch hier ist noch etwas wichtig: Die Welle von Flugzeugüberfällen und –entführungen konnte aus mehreren triftigen Gründen — von einer Aufzählung sehe ich jetzt ab; einige habe ich bereits angesprochen — nicht geduldet werden. Von den drei entführten Maschinen flog eine direkt in die Vereinigten Staaten. Eine weitere bekam Treibstoff, um der Sicherheit willen und in Anbetracht von Versprechungen durch die US-Behörden, die sie ganz und gar nicht einhielten: Wie bei der ersten Entführung wurden die Passagiere wieder misshandelt, und sie behielten das Flugzeug dort. Die letzte war ein Passagierschiff für Personentransport in der Bucht von Havanna, mit dem normalerweise 100 Personen transportiert werden. Zu jenem Zeitpunkt waren es 40. Auch hier tragen die Entführer Feuer- und Stichwaffen. Um bedauerliche Zwischenfälle zu vermeiden, wenn ein Schiff auf See ist und Personen an Bord hat — oftmals Frauen und Kinder — so wird es nicht abgefangen, sondern wir folgen ihm.

Schon einmal gab es Ausschreitungen, die einzigen, die in mehr als vierzig Jahren in Kuba vorgekommen sind. Das war am 5. August 1994. Ich weiß nicht, ob Sie die Geschichte kennen, wie das Ganze ohne Armee, ohne Polizei, ohne einen einzigen Schuss ganz einfach aufgelöst wurde. Sie hatten bereits begonnen, Steine zu werfen. Man hatte sie nämlich betrogen. Über den subversiven Sender hatte es geheißen, es kämen ein paar Schiffe sie abholen. So rotteten sich also jene Subjekte am Meeresufer zusammen. Da die Schiffe nicht kamen, begannen sie, Steine zu werfen und stifteten Unruhe. Das war am 5. August 1994, in der schwersten Zeit der Spezialperiode.

Das gab den Anlass für eine massive illegale Emigration, wie man sie nannte; denn wir hatten gesagt: „Wir werden nicht die Küsten der Vereinigten Staaten bewachen." Also dann schlicht und einfach: Streik. Was wir taten, war ein Streik. Jene Leute, die emigrierten, kennen die Revolution recht gut und haben blindes Vertrauen in ihr Wort. Wenn es heißt: Schickt ein paar Schiffe zur Abholung eurer Angehörigen; es ist bequemer so als anders zu reisen und Gefahren ausgesetzt zu sein; dann steht das Entsenden der Schiffe für sie außer Frage. Warum nun setzen sie sich der Gefahr aus, ohne Visum zu reisen? Weil es ein Gesetz gibt, das Cuban Adjustment Act, das auf nur ein Land der Welt Anwendung findet, auf Kuba, das ganz in der Nähe liegt. Dieses Gesetz gibt jedem, der illegal dorthin gelangt, das Recht auf Einreise und Aufenthalt. Dabei spielt es keine Rolle, mit welchen Vorstrafen diejenige Person belastet ist.

Man stelle sich vor, für Mexikaner gäbe es ein Adjustment Act. Wir haben nicht darum gebeten, denn in unseren Augen ist es ein mörderisches Gesetz. Was wir sagen ist, dass sich der Austausch im Rahmen des Freihandelsabkommens nicht nur auf Waren und Geld beschränken, sondern — wie in Europa — auch die Menschen in den beiden Richtungen mit einbeziehen sollte.

Bei dem Versuch des Überschreitens der Grenze zu den Vereinigten Staaten finden dort alljährlich annähernd 500 Mexikaner den Tod. Darüber wird fast nicht gesprochen. Über Kuba wird Schreckliches gesagt, weil es gemäß Gesetz und nach striktem Rechtsgang eine Strafe verhängen muss. Obwohl ich verstehe und der großen Mehrheit der Gegner der Todesstrafe recht gebe, denn und missfällt sie außerordentlich. Wenn wir uns nun gezwungen sahen, das fast drei Jahre de facto bestehende Moratorium zu brechen, dann deshalb, weil sie mit ihrer Aktivität — wohl überlegt; sie hatten es durchdacht; das wußten wir — eine Art Migrationswelle auszulösen beabsichtigten, die ihnen dann als Argument dienen sollte, als Gefährdung der Sicherheit der Vereinigten Staaten, um damit dann Kuba angreifen zu können.

Diesen Ausdruck benutzen sie für alles. Wenn ihr hier zuviel Fleisch produziert und damit droht, die Fleischpreise zu senken, oder wenn ihr viel Getreide billiger verkauft, dann könnt ihr als Gefahr für die Sicherheit der Vereinigten Staaten eingestuft werden — ich warne euch.

Der Gedanke eines massiven Exodus ist sogar schriftlich festgehalten.

Man kann doch nicht zulassen, dass es zu einer Welle von Entführungen kommt und dass es genügt, wenn einer sagt: „In der Hosentasche halte ich eine Granate in der Hand." Die Entführer des Schiffes – an Bord waren Männer, Frauen und Kinder – brachten dieses 20 Meilen hinaus auf offene See bei Windstärke vier, bis dann der Treibstoff ausging. Wie durch ein Wunder sanken sie nicht! Dort draußen kamen wir ihnen mit unseren Schiffen zu Hilfe. Ohne von ihrer Haltung abzulassen, kamen sie an Land und forderten Treibstoff. Hier spielt sich nun die Mission ab, die Geiseln frei zu bekommen. Es brauchte keine Gewalt angewandt werden, doch nicht, weil sich die Entführer etwa kooperativ gezeigt hätten, sondern weil sich die Passagiere auflehnten dank einer Reihe psychologischer Maßnahmen, die die kubanischen Behörden in Übereinkunft mit den Geiseln einleiteten. Diese sprangen ins Wasser, und alle wurden gerettet.

Uns ist die potentielle Emigration bekannt. Sagten wir: „Wer gehen will, wir befinden uns im Streik; oder kommt sie holen", es würde niemand zögern, es zu tun. 90 % derer, die emigrieren und dieses Adjustment Act in Anspruch nehmen, sind Bürger, die mit Schnellbooten aus Florida, geschickt von ihren Angehörigen, abgeholt werden. Doch unter ihnen sind auch jene anderen, die gemeine Delikte verübt haben. Ein großer Teil dieser Emigranten gehören ebenfalls zu jenen, die kein Visum erhalten. Im ganzen gesehen reisen mehr als 50 % der illegalen Emigranten mit Hilfe gewisser Angehöriger mit gewissen Möglichkeiten — sie zahlen bis zu 8000 Dollar pro Person — auf für 12 Passagiere zugelassenen Schnellbooten, die 15, 20, 25, 30 Personen aufnehmen und bei denen in nicht wenigen Fällen die Schiffe gesunken sind und es viele Todesopfer gegeben hat.

Darin liegt das Problem. Ich fasse es zusammen: Am 14. März wird entschieden, eine Gruppe Söldner zu verhaften. Am 18. März beginnen die Festnahmen. Am 19. März wird das erste Flugzeug von gemeinen Straftätern entführt — wie bereits gesagt, war so etwas zehn Jahre lang nicht vorgekommen; wer weiß, wer jene sind, die zur Entführung dieses Flugzeuges angeregt wurden und denen nun Immunität gewährt wird. Als die Immunität bekannt wird, verbreitet sich diese Nachricht schnell unter den gemeinen Straftätern. Diese meinen, die kubanisch-amerikanische Mafia sei Herr über alles, und die Pläne von Überfällen auf Schiffe und Flugzeuge multiplizieren sich. Die Entführer des Passagierschiffes vom 1. April sagen: „Bei uns sind vier Ausländer und eine Anzahl Kinder. Sie drohten, bei Verweigerung eines Ersatzschiffes oder des Treibstoffes zu beginnen, Geiseln ins Wasser zu werfen. Das ist das Typische. Gibt man nun solchen Forderungen nach, dann wird das Problem unlösbar.

Für eine derartige Situation gibt es ein anderes Beispiel, einen Präzedenzfall: Diejenigen, die US-amerikanische Flugzeuge raubten, wurden von uns bestraft und das Flugzeug nach einer optimalen Betreuung der Passagiere unverzüglich in die Vereinigten Staaten zurückgesandt. Der US-amerikanischen Flugzeuge großen Formats waren es nicht wenige, die in den Vereinigten Staaten nach Kuba entführt wurden. Sie waren es, die diese Verfahrensweise gegen Kuba erfanden; doch später erwies sie sich als Bumerang, denn es gibt viele geistig Gestörte in jenem Land. Sie benutzten sogar eine Wasserflasche und sagten: „Sieht her, hier habe ich einen Molotowcocktail", und die Piloten haben normalerweise die Anweisung, nicht das geringste Risiko einzugehen.

Es ist vorgekommen, dass die dortige Polizei auf die Reifen schoss, und wir mussten dann die Piste mit Schaumstoff bedecken, damit ein Flugzeug mit Passagieren an Bord auf seinen reifenlosen Metallrädern landen konnte.

Ende 1980 war Carter an der Regierung; doch das Problem gab es schon vordem, denn frühere Regierungen hatten es gegen Kuba erfunden. Wie sind wir damit fertig geworden? Wir haben zwei Entführer ausgeliefert. Früher wurden sie mit bis zu fünf Jahren Haft bestraft. Wir erhöhten die Sanktionen immer weiter, doch die Entführungen hörten einfach nicht auf.

So verfuhren wir nach der anderen Formel: Wir lieferten ihnen zwei Entführer aus und erreichten damit die definitive Lösung des Problems. Es bestünde keine Notwendigkeit, jemanden zu erschießen, wollten sie uns die Entführer ausliefern, wie wir es taten und ihnen damit ein Problem aus der Welt geschafft haben, und zwar in einem Umfang, dass es in mehr als zwanzig Jahren trotz der vielen geistig Gestörten zu keiner weiteren Entführung gekommen ist. Nun sagen wir ihnen: „Senden Sie uns die Entführer zurück." Es war ganz offensichtlich, dass Kuba das Problem der Entführung seiner Passagierschiffe und –flugzeuge an der Wurzel packen musste.

Der Staatsrat gewährte keine Gnade, und auf diese Delikte steht seit geraumer Zeit die Todesstrafe. Es kamen sogar einige jener Gesetze nicht zur Anwendung. Warum? Weil man nicht daran interessiert war; weil die Situation nicht auf Kriegsgefahr hinwies wie es heute der Fall ist; die Gefahr einer Welle von Flugzeug- und Schiffsentführungen. Eines Tages brauchten sie nur noch einen Touristenbus zu überfallen, drei Typen mit einem Messer, und zu sagen: Ich töte drei Touristen, wenn ich nicht zum Flugplatz gebracht werde und ein Flugzeug bekomme, mit dem ich weg kann." So liegen die Dinge. Diese ist die strikte Realität. Der Staatsrat ist befugt zu begnadigen, doch er ist nicht dazu verpflichtet.

Wenn man weiß, es besteht eine ernste Gefahr für das Leben vieler Menschen, es besteht eine ernste Konfliktgefahr; was ist zu tun, da sie doch weiterhin den Entführern Aufenthaltserlaubnis erteilen, sie nicht ausliefern, womit alle Probleme aus der Welt geschafft wären. Im Falle des Schiffes schickten sie, als sie über eine illegal reisende Gruppe informiert wurden, Küstenwachtschiffe bis in die Nähe Kubas, um die Reisenden aufzunehmen und sie nach Kuba zurückzuführen, bevor sie an die Küste der Vereinigten Staaten gelangten. Wissen Sie, was sie taten? Wie gewöhnlich entsandten sie einige Küstenwachtschiffe. Um die Mittagszeit informierten sie, sie übernähmen sie nicht; laut eines internationalen Abkommens sei es unsere Angelegenheit; in internationalen Gewässern habe das Land, unter dessen Flagge das Schiff fahre, die Angelegenheit zu klären. Sie hätten es wie sonst auch übernehmen können, doch sie taten es nicht. Sie wollten sich kein Problem aufladen oder wer weiß, warum, und sagten uns: „Kümmert ihr euch darum."

In einer darauf folgenden Deklaration musste kategorisch gesagt werden: „Kein entführtes in Kuba landendes Flugzeug oder einlaufendes Schiff wird jemals mehr auch nur einen Tropfen Treibstoff erhalten." Die Leute wissen — und sie wissen es auch —, dass diese Festlegung durchgesetzt wird, ist sie einmal publik.

In der Erklärung heißt es außerdem: „Die Autoren derartiger Straftaten werden vor Gericht gestellt; es wird über sie im Schnellverfahren gerichtet, und der Staatsrat wird keine Gnade gewähren." Verbrecherische Handlungen dieser Art gefährden unweigerlich die Passagiere. Ich fragte: Wenn nun bei diesen verantwortungslosen Abenteuern ein Flugzeug mit sämtlichen Passagieren in der Luft explodiert, wer ist dann für die Toten haftbar zu machen, wir oder die dazu von den Vereinigten Staaten aus anregenden Provokateure? Nicht nur jene tragen die Schuld, die zur Tat anregen oder sie verüben, sondern auch jene, die uns erbarmungslos anprangern, weil wir zur Verteidigung Kubas und seiner Söhne zu Maßnahmen greifen mussten. Was würde Kuba ein Krieg mit den Vereinigten Staaten kosten? Nicht weniger als Millionen, denn wir sind ein Land, das im Laufe der Zeit eine Kampfeskultur entwickelt hat.

Journalist: Kultur der Verteidigung.

Fidel Castro: Wir sind dazu entschlossen. Dieser Krieg wird nicht in drei Tagen zu Ende sein; auch nicht in 100 Tagen, noch in 100 Jahren. Wir haben uns mit allen Kriegen befasst, die sie in den letzten vierzig Jahren geführt haben. Wir haben ihre Technik studiert, ihre Taktiken, und wir wissen uns zu verteidigen. Alles Reden wäre nutzlos, könnte man nicht auf Millionen Menschen, Millionen Waffen und die erforderlichen Verteidigungskenntnisse bauen.

Es ist ein Krieg, den wir nicht wollen; ein blutiger Sieg, den wir absolut nicht wünschen; doch wir werden natürlich niemals das Land ausliefern.

Ich sage Ihnen das in aller Offenheit. Trotz unserer Äußerungen und Erklärungen zu diesem Aspekt gibt es noch Unklarheit. Sie wissen, es kommen dann die Meldungen und kleiden das, was man sagt, in das Gewand einer Karikatur. Keiner der als „Dissidenten" bezeichneten Söldner ist erschossen worden. Dank Felipes wurde ich dieses Details der Frage gewahr. Ich bedanke mich bei ihm, dass ich es auf diese Weise gut erläutern konnte, denn sonst hätte ich einfach nur die Ursachen für die Festnahmen erklärt und die Strafen genannt.

Journalist: Herr Präsident, hier war zu lesen ...

Felipe Pérez: Diese muss nun die letzte Frage sein, denn es ist 12.50 Uhr.

Fidel Castro: Gut, lassen Sie hören; ich werde mich kürzer fassen und schneller sprechen.

Journalist: Hier hat man Ihre Anwesenheit in Buenos Aires als ein Höflichkeitshonorar für die argentinische Position der Stimmenthaltung bei der Abstimmung über Kuba in den Vereinten Nationen interpretiert. Ist das richtig so?

Fidel Castro: Neben anderen Gründen, ja.

Journalist: Welche sind die anderen Gründe?

Fidel Castro: Über die anderen sprachen wir bereits. Ich sehe eine interessante Bewegung. Auch haben wir einige Freunde unter den nach hier geladenen Gästen. Es sind angesehene Personen, und bei dieser Gelegenheit konnte ich sie begrüßen. Zweitens freuen wir uns sehr für Argentinien über die Richtung, die die Ereignisse nehmen. Wir freuen uns. Wir sahen, dass es für eine Lösungsfindung in schweren Zeiten wichtig war, und das nicht nur für das argentinische Volk — viele Leute, viele Erklärungen —, sondern sogar für den Prozess in seiner Gesamtheit. Wie man weiß, können wir eine lange Liste von Schwierigkeiten aufstellen. Solidarität mit Argentinien, mit seinem Volk und der jetzigen Administration, der argentinischen Regierung. Ja, all das.

Ich habe es mir sehr gut überlegt. Welche war nun meine einzige Sorge dabei? Dort beschäftigte uns der 20. Mai und eine Reihe möglicher Antwortmaßnahmen auf die Drohungen; und ich wußte nicht, ob ich dort sein würde bei einer Mobilmachung von zwei Millionen Menschen für eine Protestaktion oder ob ich hier sein würde. Deshalb habe ich mich bis zum Schluss zurückgehalten. Wir mussten den 20. Mai abwarten, an dem die US-Regierung und die Terroristenmafia von Miami Ungewöhnliches tat: Betrug; sie brachten ein Flugzeug der Luftstreitkräfte in eine Entfernung von 6000 Metern, um unser Fernsehen mit den fortgeschrittenen Unterrichtsprogrammen zu stören.

Glücklicherweise irren sie sich ständig. Es sind Umherirrende, Olympiasieger im Begehen von Fehlern, was nicht schwer ist, wenn man Olympiasieger in Gewalt und Macht ist und diese die gesamte Macht aller übrigen Länder der Welt übersteigt; Olympiasieger in der Fähigkeit, diese Welt zu zerstören. Denn sie haben gesagt, dass jeder dunkle Flecken der Erde attackiert werden kann. Nun weiß ich nicht, ob Sie irgendein dunkles Fleckchen hier haben. Wenn ja, dann versorgen Sie es mit Strom, damit Sie zumindest (Lachen) kein Opfer werden.

Journalist: Entschuldigen Sie die Unterbrechung.

Sie sprachen von diesen Umständen. Wie waren nun Ihre Beziehungen zum vergangenen Jahrzehnt, zur letzten Regierung, zu Ménem?

Fidel Castro: Sofort erkläre ich es dir, doch brauche ich noch eine Minute, um zu Ende zu führen, worüber ich eben sprach.

Noch etwas sehr Wichtiges. Mein Aufenthalt hätte ja der Regierung irgendwie schaden können, denn mir wird mitunter, wie Sie wissen, leider ein etwas lauter Empfang bereitet. Also zum Regierungsantritt in Mexiko wurde ich auf diese Art empfangen. Hier bestand keine Gefahr, dass ein ganzes Glashaus einstürzt; denn die Journalisten, Fotografen und Kameraleute sind ein ganzer Trupp und nicht zu halten. Heute begab ich mich zur Kranzniederlegung an die Gedenkstätten für San Martín und für Martí, und als ich später in den Spiegel schaute, entdeckte ich hier einen kleinen Kratzer; ich kam also mit einer kleinen Verletzung davon. Sogar der Präsident der Republik, eskortiert von der Reiterei, erhielt von einem Kameramann einen Schlag; doch es soll niemand angeklagt werden. (Lachen) Am Tag seines Regierungsantritts wurde er verletzt.

Ich spürte, dass meine Annahme der Einladung nicht schlecht aufgenommen würde. Also bis zur letzten Minute war ich mir meines Kommens nicht sicher. Ich gelangte zur der Überzeugung, dass mein Aufenthalt auf keine Weise Schaden anrichten würde. Denn man muss nicht gehen, weil man eingeladen wird. Mitunter steht auf der Einladung ein Name: Herr X wird eingeladen. In diesem Falle wurde kein Name noch sonst etwas Ähnliches genannt; und wir haben viele Freunde. Im Gegenteil, am Ende freute man sich, als man hörte, dass es mir möglich sei zu kommen.

Nicht einfach für mich ist auch das Reisen. Ich benutze dazu eine alte IL-62. Man sprach hier von Allende. Das erste Mal benutzte ich das Flugzeug 1971, als ich Chile besuchte. Ich habe es mein ganzes Leben lang benutzt und bin zweimal mit ihm um die Welt geflogen. Es ist laut. Vor der Landung gestern zeigten sich sehr niedrige und dichte Wolkenfelder; ich sehe, wir fliegen darunter, nur war mir nicht klar, ob wir auf der Piste oder in einem Park dort landen würden. Die Hauptsache ist, dass sie immer, wenn sie gestartet ist, auch ankommt.

Ich bin sehr froh, gekommen zu sein; denn ich habe etwas spüren können, das aus den Meldungen nicht hervorgeht: den Gemütszustand. Ich traf generell und überall, auch im Parlament, auf Menschen, deren Gemütszustand Erwartung, Genugtuung, eine Erwartung der Lösungsfindung zeigte. Das war zu sehen sowie eine gute Atmosphäre, eine ausgezeichnete Atmosphäre. Das kann ich dir dazu sagen.

Journalist: Doch mit Menem war es eine zehn Jahre anhaltende Beziehung. Sie selbst berichteten recht Auffallendes aus jener Zeit ...

Fidel Castro: Zu allererst will ich etwas klarstellen. Als ich bei dem Interview für Bonasso Limonade (refresco) sagte, hätte ich Sprudel (gaseosa) sagen sollen — dabei will ich keine Werbung gegen die Ernte antreten. Weshalb auch? —, als ich mich auf den Champagner bezog, mit dem Menem mich bewirtete. Ich habe nichts sehr Falsches gesagt. Ich sagte, als Limonade — hier würde man sagen als Sprudel — sei der Champagner ausgezeichnet. Also, wir kamen miteinander aus, Sie kennen ihn gut. Wenn ich kam, lud er mich stets nach Rioja ein. Ein sehr guter Freund! Wir führten recht angenehme Gespräche bis zum Augenblick der Pressekonferenz. Als ich nämlich dorthin kam, ra, ra, ra, ra, konterte er. (Lachen) Doch diese Dinge sind nicht zu ernst zu nehmen, und wir blieben weiterhin im freundschaftlichen Gespräch. Meine Ideen sind die Antithese zu den seinen. Sie tragen antithetischen Charakter. Doch Höflichkeit verpflichtet. Da ist nichts zu machen. Ich kann ihm doch kein unfreundliches Gesicht zuwenden.

Sehen Sie, gestern wurde für die Staatsoberhäupter ein Mittagessen gegeben, und sie kamen alle — einige haben wer weiß wieviel über mich geredet — und recht anständig saßen sie dort, und ich sagte gar nichts, denn sie sprachen über ihre eigenen Probleme.

Sehen Sie, ich konnte der herrschenden Gesinnung gewahr werden. Und wie sah sie aus? Im Hinblick auf die wirtschaftlichen Probleme sah sie fast nach Einheit aus. Nirgendwo und niemals hatte ich etwas Ähnliches gesehen, trotz dass die Meinungen nicht die gleichen sind. In Cuzco waren andere Themen diskutiert worden. Hier nun erlebte ich einen Geist — ich begehe damit sicherlich keine Indiskretion, auch werde ich nichts Konkretes darüber sagen — einen seltenen und seltsamen Geist der Übereinstimmung bei ausnahmslos allen, einschließlich der Ehefrauen, zu sehr wichtigen ökonomischen Fragen. (Lachen)

Journalist: Für mich liegt die Übereinstimmung neben anderen Aspekten darin, dass man sich entschieden hat und kundtut, dass die Wahl auf den Kapitalismus gefallen ist. Ist das nicht eine Niederlage der sozialistischen Ideen nach 45 Jahren Revolution?

Fidel Castro: Dass die einzige Alternative die kapitalistische ist?

Journalist: So sagen es die Regierungen dieser Region, auch Lula beispielsweise.

Fidel Castro: Ja. Gestatten Sie mir, etwas dazu zu sagen, und zwar nicht, weil ich vor etwas Angst hätte. Ich meine, jedes konkrete Land braucht seine konkrete Lösung. Ich sage, dass unter kapitalistischen Verhältnissen Kuba heute nicht all das hätte, was es hat, speziell was es in den letzten Jahren in einem beeindruckenden Tempo erzielt hat, denn auch die Lehre und die Erfahrung sind von außerordentlichem Wert.

Sehen Sie, der Zusammenbruch des sozialistischen Lagers hat unsere Erfahrung bereichert. Es war ein Missgeschick, eine Tragödie, denn wir alle bekamen die hegemonische Supermacht zum Geschenk. Nyerere sagte, als es noch zwei Supermächte gab, dass bei einem Kampf zwischen zwei Elefanten es das Gras ist, das alles ausbaden muss. Ja, aber glauben Sie mir, besser zwei Elefanten in gewissen Grenzen als nur einer, der Herr der Weide und Herr über alles ist; Herr, um rund um die Uhr zu laufen und zu zertrampeln. So ist es gekommen, und seine Macht ist riesengroß. Wir haben dieser Macht gegenübertreten müssen und sind ausgezeichnet darauf trainiert.

Als die Blockade verschärft und das Notstandsprogramm in Friedenszeiten eingeführt werden musste, setzte keiner auch nur einen Cent auf die Kubanische Revolution. Als dazu noch die Gesetze anzogen, wurden die Maßnahmen mit dem Torricelli- und dem Helms-Burton-Gesetz noch härter — sie können schon fast nichts mehr finden. Alle diese Prüfungen mussten wir über uns ergehen lassen. Wir sind ein Volk abgehärteter Veteranen.

Journalist: Herr Präsident, ich habe eine letzte Frage, und zwar — sicher erinnern Sie sich — zum Ersten Iberoamerikanischen Gipfeltreffen in Guadalajara. Ich arbeitete auf diesem Treffen und kann mich bis heute ganz deutlich an einen Satz aus Ihrem Hauptvortrag erinnern — fast ist mir, ich hörte Sie ihn sagen —, den Sie an die anderen Präsidenten richteten ...

Fidel Castro: Erinnerst du dich, dass ich Endara von Panama lobte, wenngleich er aus einem US-amerikanischen Viertel gekommen war. Zu meinem Erstaunen sprach er eine ganz offen nationalistische Sprache.

Journalist: Doch es gab da einen Satz, den Sie ihnen vortrugen: „Wir hätten alles sein können, und wir sind nichts." Das war ein ...

Fidel Castro: Ich bezog mich dabei auf die Hemisphäre.

Journalist: Ja, natürlich. Deshalb sage ich, diese Voraussage oder dieses Urteil schien mir — deshalb ist es mir bis zum heutigen Tag im Gedächtnis geblieben — ein endgültiges zu sein. Hat sich jene Vision geändert?

Fidel Castro: Nein.

Journalist: Nein?

Fidel Castro: Heute, wie es scheint, beginnen wir damit, etwas zu sein.

Journalist: Ja, das ist es, das ist es.

Fidel Castro: Wieviel ist doch seit der Unabhängigkeit vor fast 200 Jahren geschehen, und was sind wir gewesen? Die Briten die Herren hier im Süden. Jene aus dem Norden fielen in Mexiko ein, entrissen ihm mehr als die Hälfte des Territoriums der an Erdöl und anderen Ressourcen reichsten Regionen. Panama nahmen sie ein Stück Territorium. Sie bemächtigten sich Puerto Ricos. Sie haben uns auf die eine oder andere Art, direkt oder indirekt regiert oder Regierungen gestürzt. Das heißt, hätten sich die Länder dieser Erdhälfte zusammengetan — und mehr als einer verkündete die Einheit; Bolivar gehörte zu jenen, die am meisten davon sprachen —, dann wären wir heute etwas in der Welt und hinter niemandem zurückstehend. Auch war die gesamte Behandlung, die uns zuteil wurde, von einem starken Maß an Rassismus geprägt. Ich erinnere mich, wie ich als Student die Vereinigten Staaten besuchte; ich war bereits ziemlich rot gefärbt. Dort konnte ich sehen, dass Menschen diskriminiert wurden, weil sie Latinos waren.

Journalist: Ja?

Fidel Castro: Ja, weil sie Latinos waren. Und erst die Minderheiten! Was dort geschieht, ist bekannt; man muss es nicht dauernd wiederholen.

Ich hege eine aufrichtige Bewunderung für die Lateinamerikaner, für ihr Talent, ihren Mut. Man sollte es nicht glauben, in El Salvador, ein recht kleines Land, sahen wir — denn sie waren ziemlich nahe — wie sie stark überlegenen Kräften, die über einen Riesenumfang an militärischer Ausrüstung, an Helikoptern und anderem verfügten, die Stirn boten.

Es darf keine Kriege geben. Wir müssen kämpfen, um allerorts, auch in Kolumbien, friedliche Lösungen zu finden. Es darf keinen Krieg geben, denn zu dieser Stunde in der Geschichte Amerikas schafft man Krieg überhaupt kein Problem aus der Welt.

Ich bin der Meinung, der große Fehler der Vereinigten Staaten — so besagt es auch die Rede vom 11. September, in der ich vor dieser Gefahr warne — war es, zur Lösung des Problems des Terrorismus den Weg des Krieges zu gehen.

Meines Erachtens sollte sich die gesamte Weltöffentlichkeit, alle Parteien, alle Meinungsrichtungen, alle Kirchen in diesem Kampf gegen derartige Methoden zusammenschließen. Ich glaube nicht, dass es eine dem Terrorismus zugewandte Kirche gibt; einem Terrorismus, wie ich ihn sehe: jene Aktionen, die Menschen das Leben kosten, die mit dem Konflikt nichts zu tun haben. In unserem Befreiungskampf haben wir niemals derartige Verfahren angewandt.

Da es so viele unterschiedliche Charaktere, unterschiedliche Länder, unterschiedliche Formen des Kampfes und unterschiedliche Probleme gibt, ist es leider ganz und gar nicht einfach, gerechte Formen des Friedens zu finden. Selbst die Probleme Kolumbiens sind heute nicht die gleichen wie vor vierzig Jahren. Dort gab es Guerrillas schon vor ihrer Existenz in Kuba.

Journalist: Bereits vor Kuba, ja, ja.

Fidel Castro: Noch bevor in Kuba Guerrillas organisiert wurden, war Marulanda bereits aufständisch, und in der Zeit unseres Sieges verhielt er sich ziemlich ruhig. Allerdings wurde er zum gegebenen Zeitpunkt provoziert. Die Republik Marquetalia, berühmt, ist Zeuge dessen. Zum Treffen mit Präsident Pastrana im Gebiet von San Vicente de Caguán blieb Marulandas Stuhl leer, denn die vorher geschehenen Dinge hatten in ihm ein tiefes Misstrauen geweckt. Der Entwurf der von einem anderen verlesenen Rede enthielt eine vollständige Liste dessen, was in jener Gemeinde vorhanden war. Ich habe eine Abschrift der Reden eingesehen. Aufgeführt waren hier jede Ziege, jede Kuh, jedes Huhn, jeder Esel der Republik Marquetalia; und obwohl es Frieden gab, fielen sie dort ein. Bei anderen Gelegenheiten setzten sie bei Verhandlungen Ortungsgeräte ein und ließen ihn bombardieren. Deshalb ist er überaus misstrauisch.

Demnach ist die Lösung für Kolumbien einzig und allein der friedliche Weg; und für den Frieden, so meine ich, sollten alle ihren Teil beitragen. Für einen wahren Frieden, denn einige Friedensversuche endeten dort auf dem Friedhof. Selbst die Kommunisten, die in mehreren Wahlprozessen präsent waren, hatten mehr als 3000 Verluste zu verzeichnen; es war ein Schlachthof von Kadern. Anderen Organisationen ging es ebenso. Alle diese Geschehnisse haben die Dinge dort sehr kompliziert; und nun kommt noch ein äußerer Faktor hinzu.

Ich bin der Meinung, dass man sich in der gleichen Form, wie sie die Lateinamerikaner zur Lösungsfindung auf die abgrundtiefe Wirtschaftskrise anstreben, zusammenschließen muss für eine Lösung des Problems des Friedens und der Einheit der lateinamerikanischen Nationen ohne jegliche Einmischung der Vereinigten Staaten. Dieser Hemisphäre ist keinerlei Intervention dienlich, die eine Verheerung in unseren Völkern und ihren Gütern anrichten würde. Sie würde überdies zu nichts führen, noch die Gewalt aus der Welt schaffen, ganz im Gegenteil.

Dazu wie auch zum Kampf gegen den Terrorismus, die Drogen, die Zerstörung der Umwelt, das Analphabetentum, den Hunger und die schweren Krankheiten, die die Welt geißeln und dezimieren, sind unsere Positionen ganz klar und bekannt.

Zu den Eroberungskriegen: Ein Land kann zwar erobert, doch nach der Eroberung niemals regiert werden, denn aus einem Panzer heraus kann man kein Land regieren, es nicht einmal besetzen. Es gibt noch Rätselhaftes wie das Schicksal des irakischen Führers, ob er nun tot ist oder nicht. Ein Rätsel. Mir erscheint es seltsam, denn ich kenne die Nachbarn im Norden. Wenn sie kein Wort verlauten lassen, werden sie für mich verdächtig. Ich habe in Irak Bilder beeindruckender Menschenmengen gesehen, wie das von einer Million oder mehr Schiiten, die zwar nicht für Saddam, doch ebenso nicht mit dem irakischen Vaterland zerstritten waren, auch die sunnitischen Moslems mit derselben Kultur und Religion; all das überzeugt mich noch mehr, wie sinnlos die von der US-Regierung nach den dramatischen Ereignissen des 11. September eingeschlagene Linie war.

Der Weg, gegen den Terrorismus vorzugehen, war ein politischer, kein militärischer. Es musste eine Kultur des Antiterrorismus geschaffen und nicht der Versuch unternommen werden, in als Vorwand zu benutzen für vorbedachte Doktrinen über Angriffe, Invasionen, das Niederschlagen des gerechten Kampfes für die nationale Befreiung und das Beherrschen der Welt auf der Basis von Terror und Gewalt.

Ihre Frage beantworte ich mit viel Realismus und mittels einer Erfahrung, die ich während vieler Jahre des Kampfes das Privileg hatte zu erwerben. Lebten wir in jener Zeit, hätte ich das Gleiche getan wie jetzt. Meine Träume und Hoffnungen haben sich nicht im Geringsten geändert. Wir leben heute in einer anderen Zeit, und die Taktiken des Kampfes werden von den Völkern selbst und ihren eigenen Führungskräften in Anpassung an die Bedingungen eines jeden Landes entwickelt. Die Angesehensten sind verpflichtet, Vorbild zu sein und sich für Anständigkeit, Standhaftigkeit und Redlichkeit jener einzusetzen, die kämpfen, die Welt zu erhalten und zu verbessern. Enorme Veränderungen wie vordem noch nie hat es auf dem Gebiet der Technologie und der Kommunikation gegeben. Außerdem gibt es Probleme und Gefahren auf der Welt, die viel ernster sind denn je.

Als die kubanische Revolution siegte, sprach kein Mensch über die Umwelt. Diese Auffassung wird im Laufe dieser Jahre geboren. Niemand sprach über die Ozonschicht, die Erwärmung, den Klimawandel, die zu lebenswichtigen Problemen für die ganze Menschheit geworden sind und die die ganze Menschheit vereinen. Niemand sprach über Kulturinvasion, hervorgerufen durch das Monopol an diesen Medien, die über unseren gesamten Planeten verstreut sind. Viele neue Probleme beschäftigen die Menschheit, ob Intellektuelle oder körperlich Arbeitende, ob sie mit ihren Händen oder mit dem Kopf arbeiten. Die Unterschiede verringern sich. Das Wissen ist zu verallgemeinern. Unser Land wird nach und nach zu einem Land von Intellektuellen. Es sind bereits Hunderttausende. Die Universitätsbildung erstreckt sich heute auf alle Munizipien des Landes. Wir haben Formeln gefunden, die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. Junge Menschen zwischen 17 und 30 Jahren — es sind mehr als 100 000 — werden von uns bezahlt mit der Vorgabe zu studieren. Man muss sich vergegenwärtigen, den Strafvollzugsanstalten wird der Rohstoff entzogen; denn wir haben viele bislang noch nie richtig studierte soziale Aspekte geprüft.

Sogar im Hinblick auf die Todesstrafe haben wir gesagt, dass wir ihre Abschaffung anstreben. Doch unter den Bedingungen, unter denen wir handelten, übernehmen wir die Verantwortung bei vollkommen ruhigem Gewissen; denn man hat eine Vorstellung von dem, was in der Welt passiert, was die anderen denken und was Kuba ein Krieg kosten kann, nämlich viel mehr als irgendeinem anderen Land. Denn der Einsatz steigt je höher die Verteidigungsfähigkeit ist; dabei ist das ganze für eine Verteidigung auf Leben und Tod erforderliche Bewusstsein vorhanden.

Glauben Sie mir, wenn ich nicht weiter mit Ihnen spreche, dann nicht deshalb, weil mir der Wunsch dazu fehlte, sondern weil mich dort wer weiß wie viele Menschen erwarten, Sie wissen es, und um 15.00 Uhr muss ich beim Präsidenten sein.

Journalist: Wie lange bleiben Sie noch?

Fidel Castro: Bis nach 0.00 Uhr heute. Ja, bis nach 0.00 Uhr; ich habe noch einigen Verpflichtungen nachzukommen. Das Gespräch mit Ihnen war mir ein Vergnügen.

Journalist: Für mich war es das, mein Herr.

Fidel Castro: Die Fragen und das Gespräch waren von Ernsthaftigkeit geprägt.

Journalist: Vielen Dank.

Fidel Castro: Sehr angenehm; es freut mich.

Journalist: Eben höre ich, man möchte Sie dort fotografieren...

Fidel Castro: In Ordnung.

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