Donnerstag, 10. Mai 2007

Reflexionen des Comandante en Jefe: Die Debatte weitet sich aus

Der namhafte Denker der Linken Atilio Borón, der bis vor Kurzem den Lateinamerikanischen Rat der Sozialwissenschaften (CLACSO) führte, schrieb für das kürzlich in Havanna beendete VI. Hemisphäre-Treffen zum Kampf gegen die TLC und für die Integration der Völker einen Artikel, den er mir freundlicherweise mit einem Begleitschreiben zusandte.

Ausgehend von wortgetreu übernommenen Sätzen und Abschnitten seines Artikels habe ich den Kern seiner Ausführungen folgendermaßen zusammengefasst:

Bereits die vorkapitalistischen Gesellschaften kannten das Erdöl, das in Oberflächendepots lagerte und das sie zu nicht kommerziellen Zwecken wie zum Imprägnieren des Holzes für Schiffsrümpfe oder von Textilien oder für die Beleuchtung durch Fackeln. Daher auch seine ursprüngliche Bezeichnung „Erdöl“.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts – die großen Vorkommen in Pennsylvanien waren entdeckt und die technischen Entwicklungen realisiert, angekurbelt durch die allgemeine Einführung des Verbrennungsmotors – mutierte das Petroleum zum Energiewunder des 20. Jahrhunderts.

Die Energie gilt als eine Ware. Und das, auch Marx wie darauf hin, geschieht nicht infolge der Verderbtheit oder Herzlosigkeit dieses oder jenes einzelnen Kapitalisten, sondern es ist die Folge der Logik des Akkumulationsprozesses, der zum unaufhörlichen „Merkantilismus“ sämtlicher Bestandteile, materiellen Güter und Symbole des gesellschaftlichen Lebens neigt. Dieser Merkantilsystemprozess hat auch bei den Menschen nicht Halt gemacht und simultan auch die Natur mit einbezogen. Der Boden und seine Produkte, die Flüsse, Berge und Wälder waren Gegenstand seines unaufhaltsamen Raubzuges. Natürlich entgingen auch die Nahrungsmittel dieser höllischen Dynamik nicht. Der Kapitalismus macht alles zur Ware, was er in Reichweite bekommt.

Nahrungsmittel werden zu Energieträgern, um Vernunftwidriges einer Zivilisation zu ermöglichen, die zur Wahrung von Vermögen und Vorrechten einiger Weniger die Umwelt und den ökologischen Zustand, denen das Entstehen von Leben auf der Erde zu verdanken ist, brutal attackiert.

Das Verwandeln von Nahrungsmitteln in energetisches Material ist monströs.

Der Kapitalismus schickt sich an eine massive Euthanasie der Armen zu praktizieren; speziell der Armen des Südens, denn gerade hier befinden sich die größten Bestände der Erde an der zur Herstellung von Biobrennstoff erforderlichen Biomasse. Mögen auch die offiziellen Diskurse noch so stark versichern, es handle sich nicht um eine Wahl zwischen Nahrungsmitteln und Brennstoffen, so beweist doch die Realität, dass eben diese und keine andere die Alternative ist: der Boden wird entweder zur Nahrungsmittelproduktion oder zur Herstellung von Biobrennstoff benutzt.

Zum Thema der landwirtschaftlichen Nutzfläche und dem Verbrauch an Düngemitteln sind den Veröffentlichungen der FAO folgende Lehren zu entnehmen:

·In den kapitalistischen Industrieländern beträgt die landwirtschaftliche Nutzfläche pro Kopf der Bevölkerung das Doppelte der Fläche in der unterentwickelten Welt: 1,36 Hektar pro Person im industrialisierten Norden gegen 0,67 Hektar im Süden. Das erklärt sich aus der einfachen Tatsache, dass in der unterentwickelten Peripherie etwa 80 Prozent der Weltbevölkerung leben.

·Brasilien übersteigt leicht die Angaben der entwickelten Welt zur landwirtschaftlichen Nutzfläche pro Kopf der Bevölkerung. Es liegt auf der Hand, dass dieses Land riesige Stücke seiner riesigen Fläche darauf verwenden soll, um den Anforderungen des neuen energetischen Paradigma zu entsprechen.

·China und Indien verfügen über jeweils 0,44 und 0,18 Hektar pro Kopf.

·Die kleinen Antillenstaaten, die seit jeher die Monokultur des Zuckerrohrs betreiben, präsentieren beredt dessen Erosionswirkung, verdeutlicht an dem zur Aufrechterhaltung der Produktion erforderlichen extremen Düngemittelverbrauch pro Hektar. In den Ländern der Peripherie liegt der durchschnittliche Verbrauch bei 109 kg/ha (in den Industrieländern sind es 84 kg/ha), in Barbados sind es 187,5 kg, in Dominica 600 kg, in Guadalupe 1016 kg, in St. Lucía 1325 und in Martinique 1609 kg. Erwähnt man Düngemittel, so nimmt man damit auch Bezug auf verstärkten Erdölverbrauch. So scheint also der viel gepriesene Vorteil der Agroenergiestoffe zur Verminderung des Verbrauchs von Kohlenwasserstoffen mehr illusorisch als real.



Die landwirtschaftliche Nutzfläche der Europäischen Union insgesamt würde kaum für die Deckung von 30 Prozent des heutigen, nicht des künftigen Bedarfs -der voraussichtlich noch höher liegen wird-, vorausausreichend sein. In den Vereinigten Staaten müssten zur Deckung des heutigen Bedarfs an fossilen Brennstoffen für die Produktion von Agro-Energieressourcen 121 Prozent der gesamten landwirtschaftlichen Nutzfläche des Landes zur Verfügung gestellt werden.

Demzufolge wird das Angebot von Agrobrennstoff aus dem Süden kommen müssen, aus der armen und neokolonialen Peripherie des Kapitalismus. Die Berechnungen lügen nicht. Weder die Vereinigten Staaten noch die Europäische Union verfügen über entsprechenden Boden, um eine Erhöhung der Produktion von Nahrungsmitteln und Agrobrennstoffen gleichzeitig zu erzielen.

Die Entwaldung unserer Erde könnte – wenn auch nur zeitweilig – eine Vergrößerung der Anbaufläche bedeuten, doch im Höchstfalle nur für einige wenige Jahrzehnte. Dieses Land würde dann verwüsten, und die Situation wäre schlimmer als zuvor und würde das Dilemma zwischen der Produktion von Nahrungsmitteln und der von Äthanol oder Biodiesel nur noch verschärfen.

Der Kampf gegen den Hunger – etwa zwei Milliarden Menschen der Welt leiden Hunger – wird starke Auswirkungen der Erweiterung der Anbaufläche für Biobrennstoffe zu spüren bekommen. Die Länder, in denen diese Geisel ein allgemeines Phänomen ist, werden die schnelle Umwandlung der Landwirtschaft bezeugen, die die unersättliche Nachfrage nach Brennstoffen stillen will, wie sie von einer Zivilisation gefordert wird, die diese Brennstoffe vernunftlos einsetzt. Das Ergebnis kann kein anderes sein als die Verteuerung der Nahrungsmittel und demzufolge die Verschlechterung der sozialen Lage in den Ländern des Südens.

Außerdem nimmt die Weltbevölkerung jedes Jahr um 76 Millionen zu, die verständlicherweise Nahrungsmittel fordern werden, die von Mal zu Mal teurer und für sie nicht erreichbar sein werden.

In The Globalist Perspective prognostizierte Lester Brown vor weniger als einem Jahr, dass im Jahr 2006 der größte Teil der Steigerung der Weltgetreideproduktion von den Autos absorbiert werde. Von den 20 Millionen Tonnen Zuwachs, die zu den im Jahr 2005 vorhandenen kamen, wurden 14 Millionen für die Produktion von Brennstoff verwandt und nur sechs Millionen Tonnen für die Deckung der Bedürfnisse der Hungernden bestimmt. Der Autor versichert, der Appetit der Welt nach Treibstoff für die Autos sei unersättlich. Abschließend sagt Brown, es sei ein Szenarium in Vorbereitung, auf dem es unweigerlich zu einem Frontalangriff zwischen 800 Millionen glücklichen Autobesitzern und den Konsumenten der Nahrungsmittel kommen werde.

Der vernichtende Schlag der Verteuerung der Nahrungsmittel, die auf jeden Fall eintreten wird und zwar in dem Maße wie die Benutzung des Bodens erfolgt, für den Anbau von Nahrungsmitteln oder für die Produktion von Brennstoff. Das Thema behandelten C. Ford Runge und Benjamin Senauer, zwei angesehene Akademiker der Universität Minnesota in einem Artikel, veröffentlicht in der englischsprachigen Ausgabe der Zeitschrift Foreign Affairs. Die Überschrift des Artikels spricht für sich: „Die Art, wie die Biobrennstoffe die Armen aushungern“. Die Autoren führen aus, dass in den Vereinigten Staaten das Wachstum der Agrobrennstoff Industrie zu Preissteigerungen bei Mais, Ölsamen und anderen Getreidearten, sondern auch bei Anbau und Produkten, die offenbar nichts damit zu tun haben. Die Benutzung des Landes für den Anbau von Mais, der den Äthanolschlund nährt, beschneidet die Fläche anderer Pflanzungen. Die Verarbeiter von Nahrungsmitteln, die Erbsen und zarten Mais benutzen, mussten, um die Lieferungen zu sichern, höhere Preise zahlen. Langfristig werden diese Kosten den Verbrauchern zufallen. Von den höheren Nahrungsmittelpreise werden auch die Industrien der Vieh- und Geflügelzucht betroffen. Die höheren Kosten hatten einen steilen Fall der Einnahmen zur Folge, speziell in den Bereichen Geflügel- und Schweinezucht. Sinken die Einnahmen weiter, wird selbiges auch in der Produktion zu verzeichnen sein, und die Preise für Hühnchen, Pute, Schweinefleisch, Milch und Eier werden steigen. Es wird vorausgesagt, dass die verheerendsten Auswirkungen der Preiserhöhung bei Nahrungsmitteln speziell in den Ländern der Dritten Welt zu spüren sein werden.

Laut einer Studie des Belgischen Amtes für Wissenschaftliche Angelegenheiten bewirkt Biodiesel mehr Schaden auf Gesundheit und Umwelt, denn er schafft eine noch stärker pulverisierte Verschmutzung und setzt mehr die Ozonschicht zerstörende Schadstoffe frei.

Zum Argument der vermeintliche Gutartigkeit der Agrobrennstoffe, bewies Victor Bronstein, Dozent der Universität Buenos Aires:

·Es stimmt nicht, dass Biobrennstoffe eine erneuerbare und ewige Energiequelle sind, denn der wesentliche Faktor für das Wachstum der Pflanzen ist nicht das Sonnenlicht, sondern die Verfügbarkeit von Wasser und die geeignete Bodenbeschaffenheit. Wäre dem nicht so, dann könnte Mais und Zuckerrohr in der Sahara angebaut werden. Die Auswirkungen einer Großproduktion von Biobrennstoffen werden verheerend sein.

· Es stimmt nicht, dass sie nicht verschmutzen. Wenn auch Äthanol weniger Kohlenstoffemissionbewirkt, so verschmutzt andererseits sein Herstellungsprozess die Oberfläche und das Wasser mit Nitraten, Herbiziden, Pestiziden und Abfall, und die Luft wird verschmutzt mit krebserregenden Aldehyden und Alkoholen. Die Annahme von einem „grünen und sauberen“ Brennstoff ist Betrug.

Der Vorschlag der Agrobrennstoffe ist nicht gangbar und außerdem ist er ethisch und politisch gesehen nicht akzeptierbar. Doch ihn zurückweisen, reicht nicht aus. Wir sind zur Umsetzung einer neuen Energierevolution berufen, die jedoch im Dienste der Völker und nicht im Dienst der Monopole und des Imperialismus stehen muss. Diese ist wahrscheinlich die bedeutendste Herausforderung der Stunde, schließt Atilio Borón.

Wie man sieht, hat die Zusammenfassung doch Raum in Anspruch genommen. Vonnöten ist Raum und Zeit. Faktisch ein Buch. Es heißt, das Meisterwerk des Schriftstellers Gabriel García Márquez, Cien Años de Soledad (Hundert Jahre Einsamkeit), das ihn berühmt machte, erforderte von ihm fünfzig Seiten für jede einzelne an den Verleger gesandte Seite. Wieviel Zeit brauchte also meine arme Feder, um die aus materiellem Interesse, aus Unwissen, aus Indifferenz oder mitunter aus diesen drei Gründen agierenden Verfechter dieser verhängnisvollen Idee zu widerlegen und die stichhaltigen und ehrenhaften Argumente derer zu verbreiten, die für das Leben der Gattung Mensch kämpfen?

Es gibt sehr bedeutende Meinungen und Standpunkte, die auf dem Treffen in Havanna dargelegt wurden. Man wird über jene sprechen müssen, die in einem Dokumentarfilm ein reales Bild vom Handschneiden des Zuckerrohrs mitbrachten. Der Film scheint ein Abbild von Dantes „Hölle“. Täglich wächst die Anzahl von Meinungen, die in die Medien überall auf der Welt einfließen, von Institutionen wie den Vereinten Nationen bis hin zu nationalen Gesellschaften von Wissenschaftlern. Ich sehe schlicht und einfach, dass die Debatte um sich greift. Die Tatsache, dass über das Thema diskutiert wird, ist an sich bereits ein bedeutsamer Fortschritt.



Fidel Castro Ruz 9. Mai 2007

(17:47 Uhr)

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