Donnerstag, 2. September 1999

Ansprache in der Sondersendung über die nationale und internationale Bewegung des Sports in den Studios des Kubanischen Fernsehens

Ansprache des Präsidenten des Staatsrates der Republik Kuba, Fidel Castro Ruz, in der Sondersendung über die nationale und internationale Bewegung des Sports in den Studios des Kubanischen Fernsehens, am 2. September 1999, "Jahr des 40. Jahrestages des Sieges der Revolution".

Werte Fernsehzuschauer;

Sehr geehrte Gäste:

Am 9. August, nach Beendigung der Panamerikanischen Spiele in Winnipeg, verpflichtete sich die kubanische Regierung über das Nationale Institut für Sport, Körperkultur und Erholung (INDER), eine gründliche Untersuchung des Vorwurfs des Dopingmißbrauchs gegen zwei Sportler der Gewichtheber-Nationalmannschaft einzuleiten, die bestraft wurden und denen man ihre errungenen Goldmedaillen abgenommen hatte. Diese Untersuchung hatte das Ziel, herauszufinden, ob es sich um eine weitere Schurkerei gegen unser Land handelte oder ob sich in der Tat ein Anabolikum im Organismus der erwähnten Sportler befand, wobei dann der Grund dafür und die mögliche Verantwortlichkeit des Trainers, des Arztes oder der Sportler selbst untersucht werden mußte. Gemäß unserer seit jeher verfogten unerschütterlichen Verhaltenslinie würden die Ergebnisse der Untersuchung, die wir bereits im Falle der Gewichtheber, denen die Medaille abgenommen wurde, eingeleitet hatten, der Öffentlichkeit im In- und Ausland bekanntgegeben.

Nach intensiven Anstrengungen wurde diese Untersuchung beendet und wir schreiten unverzüglich zur Erfüllung des abgegebenen Versprechens.

Da die Beschuldigungen und Sanktionen gegen unsere Sportler eng mit einer kolossalen Kampagne gegen sie und gegen den revolutionären Sport verbunden waren und als Grundlage für diese dienten, spreche ich mit aller Deutlichkeit und Offenheit nicht nur von den Mitgliedern unserer Gewichtheber-Nationalmannschaft, sondern auch von Javier Sotomayor, Weltrekordler, Olympiasieger und mehrfacher Weltmeister, Vorbild unseres Sports, und die Geschehnisse bezüglich dieser Sportler bei den panamerikanischen Wettkämpfen in Winnipeg.

Alles begann auf die folgende Weise:

Am 2. August 1999, zehn Tage nach Beginn der Panamerikanischen Spiele, um 17.25 Uhr, wurde ich in meinem Büro darüber informiert, daß Christian Jiménez, Vizepräsident des INDER, die im Folgenden wörtlich aufgeführte Nachricht übersandte:

"Humberto (Präsident des INDER und Chef der kubanischen Delegation in Winnipeg) rief an, damit ich dem Commandante eine dringende Nachricht weiterleite.

Alles scheint darauf hinzuweisen, daß sie Javier Sotomayor als Teil einer Machenschaft mit dem Dopingproblem in Verbindung bringen wollen. Bisher wurde es noch nicht veröffentlicht.

Aus diesem Grund fliegen der Direktor des Instituts für Sportmedizin (Mario Granda), Dr. Alvarez Cambras und der Arzt des Leichtathletikteams (Dr. Quintero) morgen nach Montreal, wo sich das Labor befindet, in dem diese Analysen vorgenommen werden.

Humberto sagt, daß er vorschlägt, daß wir im Falle des Beweises, daß es sich um eine weitere Machenschaft handelt, diese Information morgen in Form einer Anklage bekanntgeben.

Nach Meinung von Humberto ist dies die größte und verzweifelste Machenschaft, die jemals gegen uns unternommen wurde.

Auf jeden Fall meint er, daß man die morgige Kontaktaufnahme abwarten muß, um die Ergebnisse zu kennen und sie danach zu veröffentlichen."

Gemäß allen Normen wird eine Information dieser Art nicht offiziell bekanntgegeben, bis die Urinproben untersucht worden sind, die in zwei Flaschen enthalten sind, die mit A und B und dem Code des Sportlers gekennzeichnet sind. Im Fall von Sotomayor verbreitete sich die Nachricht, die offensichtlich aus dem Labor selbst herausgesickert war, bereits zu dem Zeitpunkt wie Pulver in alle Richtungen, als gerade die erste Probe analysiert worden war.

Am 3. August gab eine Nachricht der Agentur AFP aus Winnipeg folgendes bekannt:

"Der Präsident der Panamerikanischen Sportorganisation ODEPA, Marío Vázquez Raña, weigerte sich am Dienstag zu bestätigen, ob der kubanische Weltrekordler Javier Sotomayor in einer ersten Dopingkontrolle positiv getestet wurde, doch er gab die Existenz eines anhängigen Falls bekannt und bat 'unsere kubanischen Freunde' um 'Geduld'.

Die Bombe exoplodierte in der selben Pressekonferenz, in der Vázquez Raña die Aberkennung der Goldmedaille der Sportlerin aus der Dominikanischen Republik, Juana Arrendel, pamamerikanische Meisterin im Hochsprung der Frauen, bekanntgab.

Als er direkt befragt wurde, ob 'Javier Sotomayor positiv getestet wurde' im ersten Test, antwortete der Präsident der Panamerikanischen Sportorganisation, Vázquez Raña: 'Ein Sportler wird untersucht. Ein Sportler wurde positiv getestet. Ich kann keine Namen nennen, aber Sie haben ihn genannt'".

Ab diesem Moment wurde ein Pandämonium wurde über alle Zeitungs-, Funk- und Fernsehmedien entfesselt. Die Stenographische Abteilung des Staatsrats sammelte einen 277 Seiten starken Band mit Nachrichten, Agenturmitteilungen, Artikeln und Kommentaren bezüglich einer hohen Kokaindosis, laut dem Labor in Montreal, im Urin von Javier Sotomayor, die innerhalb von nur sechs Tagen, vom 3. bis zum 9. August, veröffentlicht wurden. Der Band enthielt nur einen unbedeutenden Teil der auf der ganzen Welt veröffentlichten schriftlichen Nachrichten.

Wenn wir die Aussagen seiner Compañeros und von Personen ausnehmen, die über Jahre hinweg das Sportleben, die Gewohnheiten, Normen und Verhaltensweisen des Sportlers genau kannten, dessen unübertreffbare Kette von Triumpfen und dessen eindrucksvoller Weltrekord das Objekt der Bewunderung von Kindern, Jugendlichen und Fans in aller Welt war, so äußerte keine von irgendeinem Medium veröffentlichte Agenturmeldung oder Nachricht den geringsten Zweifel an der Transparenz des Antidoping-Verfahrens, der Objektivität und Unfehlbarkeit der Probe und der absoluten Gerechtigkeit eines äußerst schnellen, unerbittlichen und unanfechtbaren Richterspruchs, der innerhalb von Stunden das Leben, die Ehre und den Ruhm eines außergewöhnlichen Sportlers zu Staub werden ließ. Sotomayor, einem bescheidenen Sportler, der Millionenangebote ausschlug, seiner Frau, seiner Mutter und seinen Kindern würde dann keine andere Wahl mehr bleiben, als für den Rest ihres Lebens das Stigma des "unverbesserlichen Lasterhaften" und "Gewohnheitskonsumenten von Kokain" zu tragen, wie ihn einige seiner Henker mit Zynismus titulierten.

In Winnipeg waren unsere eigenen Leute, das heißt die wichtigsten Führungspersönlichkeiten und Techniker der kubanischen Delegation, wirklich verblüfft. Inmitten einer seit dem ersten Tag von gegen sie entfesselter Feindseligkeit, Diffamierung und Verfolgung geprägten Stimmung - wie es sie vorher niemals bei einem hochrangigen internationalen Sportwettbewerb gegeben hatte, und kurz vor den Leichtathletik-Weltmeisterschaften in Sevilla und den kommenden Olympischen Spielen in Sidney -, die sie bis zum Ende mit Standhaftigkeit und Mut ertrugen, konnten sie sich nicht einmal im Entferntesten einen solchen Schlag gegen ihren angesehensten Sportler vorstellen.

Auch wenn alle absolut sicher waren, daß es unmöglich sei, daß Sotomayor einen solchen Fehler begangen haben könnte, so waren doch das Verfahren der Entnahme, der Kodifizierung, des Transports und der Analyse der Proben, die totale Anonymität des der Probe unterzogenen Sportlers, die völlige Aufrichtigkeit und die nichtkorrumpierbare Ehrlichkeit derer, die an diesem Verfahren teilnahmen und es leiteten, etwas Unantastbares und Heiliges, so daß niemand auf die Idee kam, es in Frage zu stellen. Es gab außerdem ein rigoroses und unverletzbares Regelwerk, auch wenn den Genossen die unaufhörlichen Verletzungen aller festgelegten Normen bekannt waren, und mit den Bestimmungen des Regelwerkes geschah oftmals das gleiche wie mit den Verkehrsschildern. Die Ergebnisse des Labors waren immer das letzte Wort gewesen, wie ein Dogma oder eine aufgedeckte Wahrheit. Dort gab es schlichtweg die hochmodernen Geräte, die das Vorhandensein von Kokain in den Proben des wirklichen oder angeblichen Urins von Javier Sotomayor bei der Analyse der B-Flasche anzeigten, ein zweiter, unfehlbarer und endgültiger Beweis für die absolute Wahrheit.

Niemals hatte irgendjemand den sakrosanten Beweis eines Labors in Frage gestellt, das war nicht einmal denkbar, auch wenn alle Welt die wachsende Korruption und die Unaufrichtigkeit kannte, die die Kommerzialisierung und der Merkantilismus dem Sport gebracht haben. Und als ob nicht die verschiedensten Möglichkeiten zur Vorherbestimmung des Inhalts dieser Proben bestehen würden, und zwar von dem Augenblick an, an dem der Sportler selbst im Athletendorf Quartier bezieht, wo er Lebensmittel und Getränke zu sich nimmt, die andere für ihn zubereiten und ihm verabreichen, bis zu eben dem Moment, in dem sein Urin entnommen, behandelt, verpackt, kodifiziert und zum Labor transportiert wird, wobei man sogar nach Ansicht der Unregelmäßigkeiten im Labor von Montreal zum Schluß kommen kann, daß er dort von einem bestechlichen Funktionär verunreinigt werdem kann, der die Identität des die Probe abgebenden Sportlers kennt, die ihm von jeglichem gleichermaßen bestechlichen Funktionär verraten wurde, einem von den zahlreichen, die diese Identität kennen, einschließlich dessen, der die Probe abnimmt und das erste Formular mit den Angaben des Sportlers und der Anzahl der Proben ausfüllt, um es danach an seinen Vorgesetzten weiterzuleiten.

Mir wurde gesagt, daß diese Aufgabe in Kanada von Freiwilligen durchgeführt wird. Es reicht ein wenig Erinnerungsvermögen, um eine sechsstellige Zahl im Gedächtnis zu behalten. Das ist leichter, als sich in Havanna an die Telefonnummer einer sympatischen jungen Frau zu erinnern. Wenn jemand im Falle eines so bekannten Namens wie dem von Javier Sotomayor einen Probenentnehmer bestechen würde, müßte er keine große Anstrengung unternehmen, um sich daran zu erinnern. Innerhalb von Minuten befänden sich der Name und der Code in den Händen dessen, der bereit wäre, für diesen Service zu zahlen. Es wäre gerechter zu behaupten, daß diese Information von einer höherrangigen Person bereitgestellt werden könnte, die die entsprechenden Codes erhält. Unter diesen Personen gibt es bekannterweise korrupte Leute.

Es gab ein Durcheinander. Alle Gewichtheber behaupten wortwörtlich, daß "ihnen während der Bekanntgabe der Dopingkontrolle im Anschluß an den Wettbewerb in Winnipeg Wasser und Erfrischungsgetränke im Aufwärmbereich ausgehändigt wurden. Sie taten dies weder im Bereich der Dopingkontrolle noch ließen sie sie das Erfrischungsgetränk aus einem Kühlschrank frei auswählen", wie es vorgeschrieben ist.

Sie geben ebenfalls an, daß "die Dopingproben der Kubaner immer in einem seperaten Raum abgenommen wurden, im Unterschied zu dem für den Rest der ausländischen Sportler bestimmten Ort."

Carlos Hernández, Gewichtheber der 94 Kilogramm-Kategorie und Gewinner der Goldmedaille, erzählt, daß "es nach der Einnahme des Erfrischungsgetränks, das ihm ausgehändigt wurde, bei ihm zu einem Absinken des Blutdrucks kam."

Alle Trainer dieser Disziplin erzählen, daß "den kubanischen Sportlern die Proben in einem seperaten Raum abgenommen wurden und daß sie außerdem gezwungen waren, das Erfrischungsgetränk an einem bestimmten Ort und unter Anleitung einzunehmen, wobei es gelegentlich warm war."

Trotz der offenkundigen Feindseligkeit, Willkürlichkeiten, Unregelmäßigkeiten und Fallen, die unsere Delegation tagtäglich ertragen mußte, analysierten unsere Leute die vorher genannten Hypethesen nicht. Das Testgerät gab an, daß es sich um Kokain handelte. Deshalb mußte man etwas zur Rechtfertigung Sotomayors suchen, obwohl er niemals bewußt die unheilvolle und schändliche Substanz zu sich genommen hatte. Er war bereits direkt nach Beendigung des Wettbewerbs nach Kuba abgereist, so daß man nicht einmal unmittelbar eine andere Urinprobe nehmen konnte. Kokain verschwindet innerhalb von Tagen, fast von Stunden. Der Wettbewerb hatte am 30. Juli stattgefunden. Es war bereits der Abend des 3. August. Die "Experten" des Labors und der Medizinischen Kommission der ODEPA behaupteten mit eingebildeter und selbstgenügsamer Sicherheit, daß der Sportler zwei Tage zuvor eine beträchtliche Dosis Kokain zu sich genommen hatte. Einige Personen versichern mir, daß Sotomayor im Falle einer solchen Dosis nicht hätte aus dem Bett aufstehen und viel weniger im ersten Versuch 2.30 Meter überspringen können, ohne die Latte zu streifen.

Jedermann kann die Verbitterung und die Betrübnis der Verantwortlichen und Techniker unserer Delegation verstehen. Sie waren von der Unschuld des noblen und angesehenen Sportlers überzeugt. Er mußte irgendeinen Aufguß oder Tee konsumiert haben. Wie würde man davon erfahren? Es gab nicht einmal Zeit, es in Erfahrung zu bringen. Die Kommission sollte am darauffolgenden Morgen tagen, um eine Entscheidung zu treffen. Wenn es keine andere Alternative gab, waren sie bereit, ihre Ehre und sogar ihr eigenes Leben zu opfern, um die Ehre von Sotomayor und sein Recht zur weiteren Teilnahme an Wettkämpfen zu retten, sein Recht auf die Teilnahme an der Leichathletik-Weltmeisterschaft und um seine kolossale Karriere in Sidney unbesiegt zu beenden. Sie erinnerten sich daran, daß die Behörden in Atlanta und an anderen Orten gnädig waren mit herausragenden Sportlern, die des Dopingmißbrauchs angeklagt waren, wenn eine banale und fromme Erklärung wie die einer Medizin oder eines Teebeutelchens auftauchte.

An diesem selben Abend des 3. August um 22.30 Uhr übermittelten sie ihre Gesichtspunkte dem illustren Präsidenten der Medizinischen Kommission der ODEPA, Dr. Eduardo de Rose, der sich scheinbar bestürzt, verständnisvoll und freunschaftlich zeigte. Es waren nicht wenige unflätige Beleidigungen und sarkastische Spöttereien, mit denen er später in den Massenmedien Sotomayor und unser technisches Personal attackierte. Die Geste und die Beweggründe unseres technischen Teams, dessen Einfluß und Ansehen sich als bestimmend bei der getroffenen Entscheidung erwies, waren altruistisch, uneigennützig und edel. Deshalb tut es mir weh, sie kritisieren zu müssen. Doch in jenem Augenblick vergaßen sie, daß sie nicht mit ehrenhaften Leuten kämpften, daß gegen unsere Sportler und unser Land ein schmutziger und erbärmlicher politischer Krieg geführt wurde, daß wir diesen Kampf nicht mit solchen Taktiken führen konnten und daß dies keine Frage von technischen Argumenten und Rechtfertigungen war. Das, was ich später vortragen werde, wäre nichts wert, wenn wir nicht den Mut hätten, unsere eigenen Fehler einzugestehen und sie öffentlich darzulegen.

Am 4. August gegen 11.00 Uhr morgens erreicht das Büro des Sekretariats des Staatsrats die folgende Information:

"Bei dem gerade zuendegegangenen Treffen der Dopingkommission der ODEPA und des Exekutivkomitees der ODEPA wurde beschlossen, Sotomayor die Goldmedaille abzuerkennen, da die Ärzte die Verantwortung dafür übernommen haben, daß er peruanischen Tee (Verdauungstee) zu sich genommen hat. Das heißt, es als eine medizinische Verantwortlichkeit anzusehen, da er peruanischen Tee zu sich genommen hat.

Um 16.00 Uhr (Uhrzeit in Winnipeg, 17.00 Uhr in Kuba) wird es eine Pressekonferenz geben, bei der diese Maßnahme der ODEPA bekanntgegeben wird.

Daß später Dr. Granda, Direktor des Instituts für Sportmedizin, und Dr. Alvarez Cambras, Direktor des Orthopädischen Krankenhauskomplexes "Frank País", ebenfalls eine Pressekonferenz geben werden, um das Bild von Sotomayor zu reinigen und klarzustellen, daß er nicht die Verantwortung dafür hat.

Die Diskussion bei dem Treffen war sehr heftig.

Da Kanada zwei Silbermedaillen in dieser Sportart erhielt (aufgrund eines Unentschiedens), würden diese jetzt zu zwei Goldmedaillen werden.

Humberto besteht daruf, daß dies eine Machenschaft des Feindes sein muß, wobei er die Erfahrung von Sotomayor und die Tatsache berücksichtigt, daß dieser in den letzten acht Monaten mehr als fünfzehn Proben dieser Art unterzogen wurde.

Humberto möchte, daß wir dem Comandante diese Aspekte übermitteln.

Diese Entscheidung wird am Abend des 3. August getroffen, ohne uns zu konsultieren. Gewiß waren wir um 18.00 Uhr an diesem Tag in Richtung Matanzas aufgebrochen, um am Festakt zur Erinnerung an den Sturm auf die Moncada-Kaserne teilzunehmen, der um 20.00 Uhr in jener Stadt veranstaltet wurde und spät in der Nacht endete. Da ich an jenem Tag die Materialien für die Rede durchsah, hatte ich nicht einmal eine freie Minute, um zu frühstücken. Es gab während des Tages keinerlei Möglichkeit der Kommunikation.

Was war in Winnipeg geschehen? Unsere Delegation erhielt die Bestätigung der B-Probe um 19.30 Uhr (Uhrzeit in Winnipeg), und als sie sich um 22.00 Uhr (Uhrzeit in Winnipeg) mit dem berühmten Dr. De Rose trafen, waren es noch Stunden bis zur Beendigung unseres Festaktes in Matanzas. Im Morgengrauen des 4. August näherten wir uns auf der Rückfahrt Havanna. Man mußte schnellstens das Material der Rede von Matanzas auswählen zur unverzüglichen Übergabe an die ausländische Presse. Erst am Nachmittag konnten wir uns mit den Nachrichten beschäftigen, die uns aus Kanada erreichten.

Zusätzlich zur bereits erwähnten Nachricht vom 4. August informiert man uns, daß das technische Team um 17.00 Uhr Uhrzeit in Winnipeg (18.00 Uhr in Kuba) eine Pressekonferenz geben würde. Man fragte nach, ob die am Morgen beim Treffen mit der Dopingkommission der ODEPA verfolgte Linie beibehalten werden sollte. Erst gegen 17.00 Uhr kubanischer Zeit konnten wir uns mit den Nachrichten von den Panamerikanischen Spielen beschäftigen. Um diese Uhrzeit lese ich zügig die Botschaft hinsichtlich des morgendlichen Treffens mit dem Komitee der ODEPA und der dabei verfolgten Linie. Ich mußte außerdem dringend die Nachfrage bezüglich der in jener Pressekonferenz zu verfolgenden Linie beantworten.

Um die Anweisungen, die ich übermittelte, besser zu verstehen, muß ich das Folgende vortragen:

Auf Bitten der Genossen in Winnipeg besuchte Christian am 3. August um 2.30 Uhr morgens Sotomayor in seiner Wohnung, die sich im Stadtbezirk Playa in Havanna befindet. In der Nähe hielten sich bereits einige Journalisten der in Kuba akreditierten ausländischen Presse auf, die mit ihren Kamaras und ihrer Ausrüstung gegenüber der Wohnung des Sportlers Wache hielten. Sie hatten dort bereits Stunden zugebracht -man beachte, mit welcher Schnelligkeit sie herbeigeeilt waren -, seit dem Ende des 2. August, sehr viel eher als das Treffen des Präsidenten der ODEPA mit der Presse, bei dem sie ihn fragten, ob die A-Probe von Sotomayor einen positiven Befund ergeben hätte. Das war bereits vox populi in Winnipeg, aber auch bei den ausländischen Medien in Havanna. Sotomayor wußte bereits von Gerüchten, daß man ihn des Dopingmißbrauchs beschuldige, aber er war weit davon entfernt sich vorzustellen, daß er beschuldigt würde, in dem Moment Kokain konsumiert zu haben, in dem er mit breitem Abstand die Latte auf einer Höhe von 2.30 Meter überquerte, also etwas, das er mehr als dreihundert Mal im Laufe seiner brillianten Karriere geschafft hatte. Als Christian ihn darüber informierte, daß die Laborprobe das Auftreten dieser Droge ergeben habe, wurde die Situation dramatisch: Sotomayor brach mit tiefer Abscheu und Wut in Tränen aus. Als ihn Christian fragte, ob er irgendeinen heißen Aufguß oder Tee konsumiert habe, antwortete Sotomayor, eine von dessen Eigenschaften gemäß allen, die ihn kennen, die Bescheidenheit ist und der immer dann, wenn er kritisiert oder auf etwas hingewiesen wurde, nicht eine Sekunde zögerte, jeglichen Mangel, Fehler oder jegliche Disziplinlosigkeit in seinem Training, so klein sie auch gewesen sei, einzugestehen, und der obsessiv war bei seiner sprichwörtlichen Sorgfalt in bezug auf alles, was er zu sich nahm, bis zu dem Extrem, daß er systemmatisch den Gebrauch von Vitaminen oder Medikamenten ablehnte, kategorisch, daß er weder diese Substanz noch irgendeine Art von Aufguß oder Tee konsumiert habe, dem man dieses Ergebnis hätte zuschreiben können. Er war nicht bereit, dies zu akzeptieren, ungeachtet der Folgen, die dies für ihn haben könnte.

Während die Genossen in Winnipeg, ohne ihn konsultiert haben zu können, irgendeine Erklärung suchten, ausdachten und sogar irgendeine Formel zugaben, die ihn innerhalb der durch das fulminante Resultat des kanadischen Labors unumkehrbar erscheinenden Situation begünstigen sollte, bestritt Sotomayor mit Würde, daß er einen Aufguß oder Tee irgendeiner Art konsumiert habe. Christian, der ein außergewöhnlicher Zeuge dieses harten, traumatischen und bitteren Augenblicks war und der nicht an der Integrität des populären und bewunderten Sportlers zweifelte, blieb ein tiefer Eindruck von der Aufrichtigkeit und Würde, mit der er reagierte.

Die falsche Taktik, die bei dem morgendlichen Treffen mit der Dopingkommission der ODEPA verfolgt wurde, war mehr als offensichtlich.

Am 4. August um 17.23 Uhr gelang es mir, mich mit Humberto in Verbindung zu setzen, der ungeduldig auf die Antwort wartete, als nur noch 37 Minuten bis zum Treffen des technischen Teams mit der Presse verblieben. Im Folgenden nenne ich die wichtigsten Kriterien, die ich ihm übermittelte:

Es dürfen keine Theorien entwickelt werden, die seine Ehre verletzen.

Wir dürfen keine technischen Lösungen für das Problem suchen.

Man muß erklären, daß er es beharrlich abstreitet, daß er ein ein aufrichtiger Mann ist und es sein ganzes Leben gewesen ist und daß wir ihm glauben. In kurzen Worten: Man muß ihm glauben, weil er ein Mann ist, der niemals einen schwerwiegenden Fehler oder eine solche Disziplinlosigkeit begangen hat, und seine Charakteristik ist die Aufrichtigkeit.

Ihr dürft euch nicht von dem Wunsch leiten lassen, daß er weiterhin an Wettkämpfen teilnehmen kann. Er hat geweint, und zwar aus Abscheu.

Wir dürfen ihm nicht das mit dem Tee anhängen, weil wir damit seine Aufrichtigkeit in Frage stellen und einer ungerechten Anschuldigung Vorschub leisten.

Angesichts all dessen, was dort passiert ist, weiß der Himmel, wie dieses Resultat zustandegekommen ist, das auch einen Schlag für das Ansehen des Landes darstellt.

Wir müssen es abstreiten und uns auf die Tatsache stützen, daß er ein aufrichtiger Mann ist. Er ist ein ehrenwerter Mann, dem man niemals eine schwerwiegende Disziplinlosigkeit nachweisen konnte.

Wir dürfen dabei nicht schwanken. Man muß ein solches Resultat anfechten. Schwankt keine Sekunde.

Man kann solchen Proben nicht vertrauen, wenn man von all dem Mist weiß, den sie angerichtet haben, und noch viel weniger, wenn sie hierbei Kokain ins Spiel bringen, etwas, das nicht nur dem Sportler, sondern auch Kuba das Ansehen entzieht.

Man muß ihn verteidigen. Das ist der Moment, in dem man ihn am meisten verteidigen und ihm am meisten vertrauen muß. Räumt nicht die geringste Möglichkeit ein, daß er das getan hat. Wir müssen ihm vertrauen, weil wir ihn gut kennen. Wir haben Tausend Gründe dafür, ihm zu vertrauen.

Humberto stimmte vollkommen mit dieser Haltung überein.

Minuten danach gelang es mir, mich mit Fernández in Verbindung zu setzen. Ich sprach wenige Minuten mit ihm und erläuterte ihm ähnliche Kriterien:

Das ist willkürlich. Unter so vielen Dingen, die geschehen sind, sehen wir dies als eine der größten Ungerechtigkeiten an, die dort begangen wurden.

Es ist infam, von Kokain zu sprechen.

Wir haben ihm aufgrund seines Verhaltens immer vertraut. Wir können jetzt nicht an ihm zweifeln oder ihn in Frage stellen. Wenn wir ihn in Frage stellen, indem wir eine technische Lösung suchen, um der getroffenen Entscheidung entgegenzuwirken, stellen wir damit sein Ansehen und seine Ehre in Frage. Ich glaube ihm, Fernández.

Darauf antwortet mit Fernández: Ich glaube ihm, wir müssen darlegen, daß wir an sein Wort glauben und ihn als unschuldig ansehen.

Das Niederträchtigste am Fall von Javier Sotomayor war, daß sie ihm die Medaille abnahmen aufgrund der Beschuldigung des Konsums einer Droge, bei der es aufgrund ihres flüchtigen Auftretens keine Möglichkeit gab, auf wissenschaftliche Methoden zurückzugreifen, um auf unwiderlegbare Weise den Betrug zu beweisen. Es blieb nur die Alternative, die moralische Schlacht zu schlagen mit Hinweis auf das Leben, die Geschichte und die profunde und intime Kenntnis der Eigenschaften des Sportlers und seines Verhaltens während seiner außergewöhnlichen Sportlerkarriere.

Wir hatten das legitimste Recht, ihm zu vertrauen, einem Mann von bescheidener Herkunft, uneigennützig, bewundert und geliebt von unserem Volk und all denen, die ihn im Ausland kennengelernt haben und mit ihm zu tun hatten.

Er spendete Zehntausende Dollar, die er 1993 für die Auszeichnung "Prinz von Asturien" erhalten hatte, vollständig seinem Land und dies in der härtesten Zeit der Spezialperiode. Ich weiß es sehr gut, denn er übergab mir die Spende persönlich. Er war damals 26 Jahre alt und bereits Weltrekordler. Es hätte ihn beleidigt, wenn wir die Spende abgelehnt hätten, damit er mit diesem Geld, das er niemandem gestohlen hatte, seinem bescheidenen Heim und seiner armen und opferbereiten Familie helfe. Es war schwer, ihn mit einem Teil dieser Geldmittel zu belohnen, ohne ihm wehzutun oder ihn zu beleidigen, und dies geschah fast ohne daß er es bemerkte. Wir konnten ihn jetzt nicht der infamen Maschinerie des Merkantilismus und der Werbung überlassen, die Menschen verschlingt und den Sport prostituiert und geschändet hat.

Warum sollten wir einem desorganisierten und indiskreten Labor des Austragungslandes mehr Glauben schenken? Ein Austragungsland, das hoffte, Kuba vom zweiten Platz zu verdrängen, den es bereits endgültig und unwiderruflich eingenommen hatte, ohne dabei zu vergessen, daß wir mit der von Sotomayor gewonnenen Medaille und denen von zehn weiteren Helden jener Großtat die Vereinigten Staaten in einer ihrer stärksten Sportarten vom ersten Platz verdrängt hätten.

Indem sie uns die Medaille von Sotomayor entrissen, beraubten sie uns auch dieser Ehre.

Warum sollten wir den Organisatoren, die nicht fähig waren, den Respekt und die physische Integrität der Mitglieder unserer Delegation zu gewährleisten, mehr Vertrauen schenken?

Warum sollten wir einer medizinischen Kommission, deren Vertreter unseren ruhmreichen Sportler mit Beleidigungen überschüttet und unsere Delegation über die Medien auf eine spöttische und zynische Art und Weise beschmutzt, mehr Vertrauen schenken?

Aber es gibt einen entscheidenden Unterschied zwischen dem, was es bedeutet, Sotomayor seine Medaille zu entreißen und dem, zwei unserer Gewichtheber die Goldmedaillen zu entreißen.

Das Entreißen der Medaille im Fall Sotomayors war begleitet von einer zerstörerischen und infamen Beschuldigung. Man beschuldigte ihn vor den Augen der Welt, ein Drogenabhängiger zu sein, ohne dabei im Geringsten zu berücksichtigen, daß mehr als einhundert Dopingproben, viele davon überraschend, ohne daß man jemals auch nur eine einzige Spur von Drogen oder Anabolika gefunden hätte, für sein sauberes und unbeflecktes Sportlerleben bürgen.

Die Gewichtheber bezichtigte man des Mißbrauchs eines Anabolikums, nämlich des Nandrolon, einer gewöhnlich im Profisport verwendeten Substanz, ahndungswürdig, unzulässig und im Falle eines Amateursportlers wert, mit einer exemplarischen Sanktion belegt zu werden. Obwohl der moralische Schaden groß ist, zerstört dies nicht das ganze Leben eines jungen Sportlers, seine Ehre und die Ehre seiner Familie, mit einem untilgbaren gesellschaftlichen Fleck, der immer zusammen mit seinen sportlichen Großtaten auftauchen wird.

Im Fall von Javier Sotomayor konnten sie nicht ignorieren, daß sein bis jetzt ungeschlagener Rekord heute, morgen und in alle Ewigkeit mit der infamen wiederholten Behauptung verbunden wäre, daß er ein Drogenabhängiger sei.

Doch gleichzeitig beschuldigte man im Fall der Gewichtheber sie das Auftreten einer Substanz in ihrem Urin, die nur wirksam werden kann, wenn man sie intramuskulär einspritzt, und die bis zu sechs Monate im Organismus des Sportlers verbleiben und nachgewiesen werden kann. So bekräftigten es die bekannten "Experten" aus Winnipeg, als sie die Gewichtheber verdammten.

Als wir am 6. August die Nachricht erhielten, daß in den Laboranalysen von William Vargas, Gewichtheber der 62 Kilogramm-Kategorie, Nandrolon gefunden wurde, dachte ich sofort an einen neuen Betrug, der die infame Anschuldigung gegen Sotomayor unterstützen und dazu dienen sollte, die Glaubwürdigkeit der Anklage gegen den unübertrefflichen Hochspringer und das Ansehen des kubanischen Sports zu bekräftigen.

Ich wies Christian an, den Gewichtheber an diesem selben Tag ausfindig zu machen, ihn in sein Büro im INDER zu bestellen und mit ihm zu sprechen. Er sollte seinen Standpunkte anhören und ihm mit dem größtmöglichen Taktgefühl die Notwendigkeit mitteilen, unverzüglich Urinproben abzunehmen, um ihn vor einer möglichen Ungerechtigkeit zu bewahren. Christian sollte ebenfalls unverzüglich den Arzt des Gewichtheberteams und den Trainer des Sportlers ausfindig machen.

Der Gewichtheber, der zu diesem Zeitpunkt noch nicht zurückgekehrt war, kam in den ersten Morgenstunden des 7. August an. Er wohnt im Kreis Caimito in der Provinz La Habana und seine Frau brachte am selben Tag ein Kind zur Welt, als er die Goldmedaille gewann. Dies war trotzdem kein Hindernis, damit er sich, nachdem er ausfindig gemacht wurde, zur Leitung des INDER begab, um die Proben bereits spät abends abzugeben, wobei er seine Aufgabe am Morgen des nächsten Tages beendete. Es waren vier Tage seit dem Moment vergangen, in dem bei ihm die Proben in Winnipeg abgenommen wurden.

Der Sturzregen an Nachrichten und Kommentaren in bezug auf Sotomayor hatte noch nicht aufgehört, als der Skandal der kubanischen Gewichtheber entfesselt wurde. Unsere Delegation in Winnipeg kam nicht zur Ruhe.

Am Abend des 8. August gaben Mitteilungen von verschiedenen Nachrichtenagenturen bekannt, daß ein weiterer kubanischer Gewichtheber, Rolando Delgado Núñez, Gewinner der Goldmedaille in der 69 Kilogramm-Kategorie, seine Medaille wegen Dopings mit Nandralon abgenommen bekommen hatte.

Er wohnt in Pinar del Río, und an diesem selben Abend machte man ihn unverzüglich ausfindig und brachte ihn nach Havanna. Ihm konnten um 12.00 Uhr in der Nacht des 9. August Urinproben abgenommen werden, fünf Tage nach seiner Probennahme in Winnipeg.

In beiden Fällen war der Zeitunterschied minimal. Es war absolut unmöglich, daß diese einspritzbare Substanz, die Monate im Organismus verbleibt, nicht im Urin der Sportler auftauchen würde, denen die Medaillen wegen Dopings mit Nandrolon aberkannt wurden.

Es handelte sich jetzt nicht mehr nur um das sich verflüchtigende und schwer zu greifende Kokain, dessen Mißbrauchs man Sotomayor beschuldigte. Wenn man beweisen konnte, daß die Proben absolut frei von diesem Anabol waren, würde die Behauptung des angeblichen Auftretens der sündhaften Substanz, die die selben Personen und das selbe sakrosante kanadische Labor im Urin von Sotomayor fanden, nicht mehr zu halten sein. Doch das erschien wie ein Traum und etwas praktisch Unmögliches.

Da die Unterstellungen in den Mitteilungen der Nachrichtenagenturen bezüglich neuer Dopingfälle bei kubanischen Gewichthebern weitergingen, wurden die restlichen Gewichtheber, die Gold- und Silbermedaillen gewonnen hatten, unverzüglich für den 8. und 9. August einbestellt. Es war notwendig, die Sportler und auch ihre Trainer dringend ausfindig zu machen.

Der Arzt des Teams - er machte Urlaub in Holguín - war schwieriger zu finden. Nach drei Tagen war er ausfindig gemacht und per Flugzeug in die Hauptstadt gebracht worden.

Die Proben der letztgenannten Sportler wurden hier knapp vier Tage nach den Probenahmen in Winnipeg genommen, und zu diesem Zeitpunkt war keiner von ihnen als nandrolongedopt festgestellt worden.

Parallel dazu wurden am gleichen Abend die entsprechenden Anweisungen gegeben, um zu entscheiden, wo die Analysen der Proben durchgeführt werden sollten, von wem und wie sie transportiert werden, wie die entsprechenden Visa umgehend zu bekommen waren und welche Maßnahmen der begrenzten Einweihung und absoluten Geheimhaltung getroffen werden mußten.

Es war bereits nach 24.00 Uhr, als nur noch eine kurze, aber sehr wichtige Erklärung ausstand, die am nächsten Morgen, den 9. August, zu den beiden letzten bereits offiziell mitgeteilten Fällen veröffentlicht werden und präzise und kategorisch die Haltung der Regierung Kubas im Hinblick auf jeden bewiesenen Dopingfall darlegen sollte.

Um 5.00 Uhr morgens landete die letzte Maschine mit 93 Mitgliedern der kubanischen Delegation sowie José Ramón Fernández, Präsident des Kubanischen Olympischen Komitees; Humberto Rodríguez, Präsident des INDER (Nationales Institut für Sport, Körperkultur und Erholung); Dr. Mario Granda, Direktor des Instituts für Sportmedizin, der sich unmittelbar wichtigen Aufgaben im Zusammenhang mit den laufenden Nachforschungen zuwenden mußte, und andere wichtige Spezialisten.

Nach dem Empfang trafen wir uns mit den Hauptverantwortlichen und dem technischen Personal der Delegation auf dem Flugplatz. Ich unterrichtete sie über die Schritte, die wir bereits unternommen hatten, und gemeinsam erarbeiteten wir auf der Grundlage der verfügbaren Angaben die Erklärung der Regierung, in der wir über das INDER dem Volk mitteilten, daß es tiefgründige Nachforschungen geben werde hinsichtlich der Anschuldigungen gegen die Gewichtheber, um zu klären, wie wir bereits zu Beginn unserer Ausführungen sagten, ob es sich hier um eine weitere Schuftigkeit gegen unser Land handelte oder ob das Anabolikum tatsächlich bei den genannten Sportlern festgestellt wurde, und daß wir entschieden haben, die Ergebnisse dieser Recherchen der Öffentlichkeit im In- und Ausland bekanntzugeben.

Um 8.20 Uhr am 9. August wurde diese Note bereits im Fernsehen gesendet.

Wir konnten diese Äußerungen auf diese Weise vorbringen, denn diesmal hatten wir sehr wohl Möglichkeiten des Einsatzes wissenschaftlicher Methoden, um die Laborergebnisse, die wir als betrügerische und ungerechte Anschuldigungen betrachteten, zu bestätigen oder abzulehnen.

Weshalb sprachen wir von der Möglichkeit, die Verschwörung gegen Kuba vollständig und unwiderlegbar zu entlarven? Obgleich, wie Sie sehen werden, solide und ebenfalls unwiderlegbare Argumente die Unwahrheit der Anschuldigungen durch Beweisführungen, Analysen, ärztliche Verfahren und andere Methoden beweisen können, sollten in diesem Falle andere renommierte Laboratorien das letzte Wort sprechen.

Doch es gab vier Gründe, die mich eher skeptisch machten:

Erstens: Es war faktisch unmöglich, daß jene, die unseren Sport und unser Land treffen und in Mißkredit bringen wollten, so dumm sein konnten, ein Anabolikum mit Retardwirkung einzusetzen, bei denen mit technischen Mitteln unschwer das Fehlen von Spuren nachweisbar ist. Das wäre einzig und allein erklärlich, wenn sie uns bis ins Unendliche unterschätzten.

Zweitens: Im Gewichtheben hat sich weltweit die Gewohnheit des Einsatzes von Anabolika herausgebildet, der in einigen Ländern fast allgemein üblich ist. Auch bei uns gab es, wenngleich sehr wenige, so doch einige Fälle solcher Disziplinlosigkeiten bei Trainern und Sportlern dieser Sportart.

Drittens: Einer der jetzt beschuldigten Sportler war vor Jahren wegen Anabolikabenutzung sanktioniert worden. Und sein Trainer, um das Bild noch besorgniserregender zu machen, war aus dem gleichen Grund ebenfalls sanktioniert worden, was tatsächlich recht auffällig war.

Wenn es sich also, wie wir glauben, um eine Verschwörung gegen uns handelte, so hatte der Feind sehr clever ins Schwarze getroffen.

Viertens: Wenn nur eines der verschiedenen exzellenten und renommierten ausgewählten Laboratorien übereinstimmend mit den Analyseergebnissen von Montreal auch nur die geringste Menge Nandrolon im Urin der sanktionierten Sportler nachwies, so war dies ausreichend, und man hätte unverzüglich die Gültigkeit und Genauigkeit der von dieser Institution vorgelegten Ergebnisse zugeben und verbreiten müssen.

Keinem der von uns ausgewählten Labors sollte irgendetwas über den Code der Sportler bekannt sein, und der Genosse, der die Proben transportierte, wußte absolut nichts über deren Identität. Unter solchen Umständen würde die internationale Glaubwürdigkeit von etwas beträchtlich geschmälert werden, worüber wir nicht den geringsten Zweifel hegen: die Unschuld von Javier Sotomayor.

Es gab noch weitere Schwierigkeiten. Die genannten reichen bereits aus, um sich der Risiken unserer Untersuchung bewußt zu werden, doch wir mußten sie eingehen. Es war unsere elementarste moralische Pflicht.

Im Verlauf der Untersuchung ergaben sich zwei positive Aspekte:

Erstens: Angesichts der Risiken, die diese sportliche Disziplin umgaben, war am 4. Januar 1995 ein neuer Beauftragter ernannt worden, ein Oberstleutnant a.D. der Revolutionären Streitkräfte, der zwölf Jahre lang die Sektion Körperertüchtigung und Sport im Ministerium der Streitkräfte geleitet hatte. Vordem war er als internationalistischer Kämpfer eingesetzt gewesen. Dieser Beauftragte hat seit seiner Amtsübernahme eine ausgezeichnete Arbeit im Hinblick auf Organisation, Disziplin, Erhöhung des fachlichen Bewußtseins und Stärkung der Ethik und des patriotischen Geistes in der Sportart Gewichtheben geleistet. Das Team, das uns in Winnipeg repräsentierte, war unschlagbar, und in Kuba war eine Reserve zurückgeblieben, die ebenfalls in der Lage war, große Lorbeeren zu ernten.

Zweitens: Das Institut für Sportmedizin und ein junger und intelligenter Arzt, der mit der gesundheitlichen Betreuung der Nationalmannschaft der Gewichtheber betraut war, haben, jeder auf seinem Gebiet, ein System der integralen Betreuung dieser Sportler vervollkommnet.

Eine systematische Kontrolle und Überwachung in bezug auf den Einsatz von Anabolika machten das Auftreten von Dopingfällen fast unmöglich.

Bei einem Gespräch sagte mir der Arzt der Nationalmannschaft, daß er, kaum das Arztdiplom in der Tasche, mit bloßem Auge feststellen konnte, ob jemand gedopt war oder nicht.

Als die Dopinganschuldigungen gegen zwei von unseren Goldmedaillengewinnern vorgebracht wurden, konnte ich bemerken, daß alle, die direkt mit den Sportlern zu tun hatten, die Möglichkeit, daß es wahr sein könnte, von der Hand wiesen. Bei keinem von ihnen konnte ich auch nur den geringsten Zweifel feststellen. Mir selbst, als ich über die erstgenannten Faktoren nachdachte, schien es unmöglich, daß ausnahmslos alle Angaben, die die Aberkennung der Medaillen unserer Sportler begründeten, widerlegt werden könnten. Wie im Boxsport benötigte man einen Punkt der Übereinstimmung, bei dem die Mehrzahl der Richter dafür stimmen, doch in diesem besonderen Fall mußten es alle sein, ohne eine Gegenstimme.

Die Laborergebnisse sollten das letzte Wort dazu sagen.

Wir dachten daran, drei verschiedene Laboratorien zu engagieren. Der Direktor für Sportmedizin wandte sich an fünf europäische Labors und beantragte ihre Dienste mit der Begründung, es bestehe die Notwendigkeit der Anfertigung von Laboranalysen bei Gewichthebern. Er wandte sich an Barcelona, Madrid, Portugal, London und Belgien.

London antwortete, daß es wegen Reparaturen nicht möglich sei. Die anderen sagten zu.

In Anbetracht der Dringlichkeit sowie der Entfernungen der anderen Laboratorien entschieden wir uns für drei auf der iberischen Halbinsel. Die Leichtathletik-Weltmeisterschaften in Sevilla bereiteten noch zusätzliche Schwierigkeiten. Barcelona, das Hauptzentrum der Dopingproben der Olympischen Spiele 1992, und Madrid standen zur Verfügung der Weltmeisterschaften. Das letztgenannte Laboratorium war zeitweise mit Arbeit überhäuft. Von Sevilla erhielt es täglich fast 50 Proben. Strengste Diskretion war unerläßlich.

Nur drei Personen würden den Code kennen, der die Proben und ihre jeweiligen Spender identifizierte: Christian, der Vizepräsident des INDER, dem ich in Abwesenheit von Humberto die Verantwortung für alle zu treffenden Sofortmaßnahmen übertrug; Mario Granda, Direktor des Instituts für Sportmedizin, und ich, wobei ich je ein Exemplar in einem versiegelten Umschlag zurückbehielt.

Doktor Palacios, Biochemiker des Instituts, der die Proben überbrachte und dem der Programmablauf im Ausland oblag, kannte den Code nicht. Eingereicht wurden drei Doppelproben der Goldmedaillengewinner und eine Doppelprobe der Silbermedaillengewinner. Insgesamt waren es 40 Proben. 6 in Madrid, 7 in Lissabon und 7 in Barcelona. Am Mittwoch, den 11. August, um 17.25 Uhr, startete der Biochemie-Fachmann mit seiner kostbaren Fracht an Bord in Richtung Madrid.

Zu dieser faszinierenden Etappe des Ermittlungsprozesses werde ich nichts weiter sagen. Die Mitteilungen von Palacios, jeden wesentlichen Schritt informierend, sollen für sich sprechen.

Madrid, den 12. August 1999

Christian:

Erste Sendung in Madrid um 12.50 Uhr übergeben. Möglicherweise beschleunigte Antwort; noch nicht bestätigt. Übermittle kommende Woche eventuelle Änderungen. Mögliche Übergabe morgen in Lissabon, Anruf steht noch aus.

Gruß

Miguel

Madrid, den 17. August 1999

Christian:

Bis jetzt wurde folgendes erledigt:

- Ich händigte die Proben am Freitag, den 13. August, in Lissabon aus. Die Analysen wurden angefertigt, und ich erhielt die Ergebnisse am Sonntag, den 15. August: Alle mit negativem Befund (-)

- Am Sonntag kehrte ich nach Madrid zurück, am Montagmorgen reiste ich nach Barcelona und übergab die Proben. Die Ergebnisse werden Anfang nächster Woche vorliegen, denn sie haben wenig Personal (Urlaubszeit)

- In Barcelona war keine Unterkunft zu bekommen. Es gab nur sehr teure Hotelzimmer, deshalb bin ich gestern abend nach Madrid in das gleiche Hotel zurückgekehrt.

- Ich werde hier auf die Antwort aus Barcelona warten und versuchen, die aus Madrid zu beschleunigen, deren kürzester Termin der 31. August ist.

-In Barcelona hatte ich eine sehr interessante Unterredung mit dem Direktor. Ein ausführlicher Bericht kommt Freitag per Kurier.

Gruß

Miguel

23. August 1999. Eine außergewöhnliche Überraschung unterbricht die deliziösen Berichte von Palacios. Sie versetzt uns wieder in den Alptraum vergangener Tage. An diesem Tag erhalten wir ein FAX aus Porto Alegre, Brasilien:

Porto Alegre, den 23. August 1999

Lic. Humberto Rodríguez

Leiter der Mission Kubas

Kubanisches Olympisches Komitee

Calle 13 Nr. 601

Vedado, Havanna

Kuba

Werter Herr Rodríguez!

Hiermit setzen wir Sie in Kenntnis, daß in der Urinprobe Ihres Sportlers Modesto Sánchez, Teilnehmer der Panamerikanischen Spiele in der Disziplin Gewichtheben in der Kategorie über 105 kg Nandrolonmetaboliten festgestellt wurden. Die Kontrolle wurde am 7. August 1999 in der Centennial Concert Hall durchgeführt.

Die B-Probe wird am 30. August um 9.00 Uhr im Dopinglabor des INRS-Santé, befindlich in 245, boul. Hymus, Point Claire, Montreal, durchgeführt. Gemäß den Richtlinien der ODEPA ist Ihre Delegation berechtigt, maximal drei Delegierte zum Labor zu entsenden. Wir bitten Sie freundlichst um Mitteilung ihrer Namen per FAX (1.514) 630-8850 oder per Telefon (1.514) 630-8806 an die Direktorin des Labors, Frau Prof. Christianne Ayotte.

Bestätigt sich das Ergebnis der A-Probe, tritt am 4. September 1999 die Medizinische Kommission der ODEPA um 22.00 Uhr im Salon des Präsidiums des Guatemaltekischen Olympischen Komitees im Palacio de los Deportes, 24 calle 9-31, zona 5, 3er Nivel, in Ciudad Guatemala zusammen. Zu dieser Versammlung sind der Sportler und maximal drei Mitglieder seiner Delegation eingeladen.

Hochachtungsvoll

Prof. Dr. Eduardo Henrique De Rose

Vorsitzender der Ärztekommission der ODEPA



Sechzehn Tage nach dem 7. August, an dem die Probe genommen wurde, erhält Kuba die Mitteilung.

Die Urinprobe von Modesto Sánchez befand sich bereits seit geraumer Zeit auf der iberischen Halbinsel. Na wunderbar! Nun sind es nicht mehr zwei, sondern drei wegen Nandrolon sanktionierte Sportler. Um so schlimmer für die Schuldigen, wenn das Schlußwort eines der drei renommierten Laboratorien zu ihren Ungunsten ausfällt. Gibt es zufällig noch irgendeinen kubanischen Gewichtheber, der noch nicht sanktioniert wurde? Wie lange noch sollen Kuba die Gold- und Silbermedaillen entrissen werden? Gäben wir ihnen auch die drei übrigen Goldmedaillen der Gewichtheber zurück, ohne dabei an die zehn zu denken, die wir mit Leichtigkeit gewonnen hätten, wäre nicht am Vorabend des Wettkampfes willkürlich die Anzahl der traditionell in dieser Sportart erkämpften Medaillen reduziert worden - nämlich mit dem Ziel, die Möglichkeiten Kubas zu vermindern -, so stünden wir immer noch auf dem zweiten Platz. Wenn sie es wünschen, geben wir alle Medaillen zurück, die wir in einem so harten Wettkampf voller widriger Faktoren bei den Panamerikanischen Spielen in Winnipeg gewonnen haben. Und nicht einmal so könnten sie uns den Weltmeistertitel in der Verteidigung eines gesunden Sports, der Ehre, der Würde und der Lauterkeit unserer Sportler streitig machen.

Es existiert ein Dokument, das anormaler nicht sein kann. Es ist ein Schreiben des Herrn De Rose an die kubanische Delegation, datiert vom 2. August und eigenhändig von ihm unterzeichnet, in dem mitgeteilt wird, daß im Urintest des Sportler William Vargas, der noch gar nicht angetreten war, noch hatte man ihm irgendeine Probe entnommen, Nandrolon festgestellt worden sei. Etwa ein Schreibfehler? Ein Fehler des Computers? Ein vorher ausgearbeitetes und irrtümlich bei uns gelandetes Dokument? Chronik eines angekündigten Todes, wie der Roman von García Márquez?

Am gleichen Tag erreichen uns einige Stunden danach weitere Mitteilungen von Palacios.

23. August 1999

Christian!

Vor einer Weile sprach ich mit den Direktoren der beiden noch ausstehenden Labors. Das hiesige hat noch nichts weiter unternommen, denn sie stecken in einer anderen für sie vorrangigen Arbeit. Sie sagten mir, daß ich am Mittwoch, dem 25. August, anrufen soll, um zu sehen, ob sie etwas haben. Das andere Labor ist ziemlich weit. Morgen früh müßten sie fertig sein. Wir sind so verblieben, daß ich sie um 9.30 anrufe.

Alle wissen bereits, daß wir eine mehrfache Sendung übergeben haben (Vergiß nicht, daß eine sehr gute Kommunikation und Kooperation existiert, denn sie erstatten in bestimmten Zeitabständen ihrem übergeordneten Organ Bericht.) (Er meint das IOC)

Sie äußerten, diese sei eine ungewohnte und wenig übliche Situation. Sie zeigten Befremden unterschiedlichen Ausmaßes, wobei das hiesige Labor das streitsüchtigste ist. Ich erklärte ihnen, daß wir die Relation zwischen dem Preis und der Zeit prüfen, in der die Antwort erfolgt und wir deshalb die Proben in verschiedene Partien eingeteilt haben, um alles in der Praxis zu verfolgen. Es wurde so akzeptiert, nur das von hier zeigte einen gewissen Vorbehalt.

Gruß an alle. Umarmung

Miguel

P.S. Morgen berichte ich wieder.



An diesem 23. August äußerten sie im Laboratorium in Madrid - wie Sie der Botschaft entnehmen konnten - unserem unermüdlichen, effizienten und beharrlichen Biochemiker Miguel Palacios gegenüber, der wie ein neuer Quichote von einer Seite zur anderen der iberischen Halbinsel eilte, ihr Befremden in bezug auf seine Besorgungen, die er in drei verschiedenen Einrichtungen tätigte. Zu diesem Zeitpunkt konnte er ihnen den Grund der Betreibung seines Anliegens nicht erklären. Er hatte Anweisung, es niemandem zu sagen. Er antwortete ihnen mit zwar liebenswürdigen, doch so wenig überzeugenden Worten, daß nicht einmal ich, der in das Geheimnis eingeweiht war, beim Lesen recht verstehe, was er eigentlich sagen wollte. Ich bin nicht sicher, daß sie ihm absolut alles glaubten. Vielleicht hegten sie den Verdacht, daß die Kubaner versuchten, einige der Geheimnisse von Winnipeg zu ergründen.

Vielleicht war ihnen der Fall der Gewichtheber nicht bekannt; sie waren durch die Leichtathletik-Weltmeisterschaften in Sevilla mit Arbeit überhäuft; doch es konnte ihnen nicht unbekannt sein, daß dem in Spanien so bekannten Sotomayor, wo er seinen außerordentlichen Rekord aufstellte, wegen einer angeblichen und hohen Dosis Kokain, die er laut den metaphysischen Theorien des Vorsitzenden der Ärztekommission der ODEPA und der Laboratorien von Montreal zwei Tage vor dem Wettkampf genommen haben soll, eine Sanktion ausgesprochen wurde.

Wir bitten die Direktion des Laboratoriums in Madrid um Entschuldigung. Heute antworten wir auf ihre Fragen.

Wir hatten mit diesen Laboratorien die Anfertigung von Analysen vereinbart und haben die wesentlichen Angaben dazu geliefert; wir waren zu nichts weiterem verpflichtet. Die beantragten Leistungen konnten keinen legitimeren Zweck haben. In den drei Laboratorien war man freundlich, seriös, effizient und verständnisvoll. Deshalb möchten wir neben unserer Entschuldigung ihnen auch unseren tiefsten Dank aussprechen.

Am 24. August 1999 sendet Palacios seine letzte Botschaft aus Madrid, dieses Mal mit ermutigenderen Mitteilungen.

Christian!

Ausstehende Ergebnisse des anderen Zentrums (er bezieht sich auf Barcelona) erhalten; alles negative Befunde, siehe Anlage.

Das von hier steht noch aus bis morgen nachmittag. Es ist das gleiche zu erwarten.

Ich komme am Donnerstag zurück wie vorgesehen.

Gruß

Miguel

P.S. War dein Anruf ein R-Gespräch? Du kannst dieses FAX mit ja oder nein beantworten. Danke.



Am 26. August fliegt Palacios nach Kuba zurück, dieses Mal mit einer Ladung unwiderlegbarer Dokumente. Nur er kannte das, was mit schmerzlicher Ungeduld erwartet wurde: das Ergebnis der im Laboratorium in Madrid analysierten Proben. Mit überaus starken Kopfschmerzen kam er in der Nacht an. Er fuhr gleich nach Hause. Er übermittelte eine Nachricht an das INDER, in der er seine Ankunft meldete. Keiner hat sie weitergeleitet, oder keiner hat ihr auch nur die geringste Aufmerksamkeit geschenkt. Was war da schon wichtiges dabei, wenn ein Herr namens Palacios angekommen war? Dieser Donnerstag, der 26. August, war ein Tag voller beklemmender Ungeduld. In Houston wurde die Boxweltmeisterschaft entschieden, und man hatte überhaupt kein Vertrauen zu den Punktrichtern. Wir mußten das Urteil der Mafia abwarten. Dort gab es keinen INDER-Vertreter, nichts. Ob aus Eifer oder Patriotismus, aller Augen waren auf die Fernsehgeräte gerichtet. Am Freitag, den 27. August, war alle Welt in Aufregung, in gerechter und gesteigerter Entrüstung darüber, was sie in jenem Ring gesehen hatten. Niemand dachte an Palacios.

Am Samstag, den 28. August, telephonierte Christian ungefähr um 12.00 Uhr mittags mit dem Hotel in Madrid und erkundigte sich nach Palacios. "Er ist nicht im Hotel. Er ist vor zwei Tagen abgereist", hieß es. Er rief die Botschaft an, keiner meldete sich. Einige Stunden lang waren wir besorgt. 'Ist er vielleicht entführt worden?' 'Haben sie ihn etwa verschwinden lassen?' 'Was er bei sich hatte, war ein dickes Ding.'

Um 20.30 Uhr, Beratung zur Podiumsdiskussion am Folgetag in beiden Fernsehkanälen unter Anwesenheit von Journalisten, Boxern und Trainern, die gerade erst aus Texas zurückgekehrt waren. Zehn oder zwölf Personen standen wir in einem Vorraum. Ich sehe Christian einige Schritte von mir entfernt, blicke ihn fragend an, und er lächelt mir zu. Ich trete näher, und er sagt leise zu mir: "Palacios ist am Donnerstag zurückgekehrt. Er hat alle Dokumente bei sich." Verblüffend!

Am Sonntag, den 29. August, um 15.50 Uhr, geht die Podiumsdiskussion über Houston zu Ende. Erst dann konnten wir uns mit Palacios befassen. Versammlung um 17.00 Uhr im Palacio de la Revolución. Neun Stunden lang analysierten wir mit den Hauptautoren dieser Geschichte den Zündstoff, den wir in der Hand hielten.

Montag, 30. August. Anerkennungsschreiben an die iberischen Laboratorien. Jetzt stecken wir zutiefst in einem großen Thema drin. Wir können dazu nicht ausführlicher werden. Es kann zu Polemiken kommen, und es ist nicht angebracht, dem Gegner Informationen zu liefern, die er in diesem Augenblick verzweifelt begehrt. Wir können nicht alle Karten auf den Tisch legen und nicht alle Munitionen verschießen. Auch werden wir die Codes nicht entschlüsseln. Es sind Flaschen mit 75 cc Urin dabei, die in diesem Moment mehr wert sind als eine Tonne Gold. Außerdem haben wir Reserven. Die Gewichtheber unserer Nationalmannschaft, junge, gesunde und moralisch einwandfreie Männer, können, wenn es die Umstände erfordern, so viele Proben liefern wie nötig sind.

Wäre das Nandrolon, das sie anführen, um uns die Medaillen zu entreißen, Wochen oder sogar Monate vor den Wettkämpfen der Panamerikanischen Spiele injiziert worden, so befände es sich immer noch im Körper jener Sportler und es stünde genügend Zeit zur Verfügung, um die nötige Anzahl Proben zu entnehmen.

Am Lächeln Christians an dem Abend, da das Geheimnis des Verschwindens von Palacios gelüftet wurde, konnte ich erraten, was geschehen war: das Ergebnis der Laboranalysen von Madrid, das Palacios in seinem saftigen Aktenkoffer mitgebracht hatte und das er in den Tagen, an denen keiner wußte, an welchem Ort der Welt er sich aufhielt, nicht aus der Hand gab. Seinerseits war es eine Grausamkeit, das Ende des ängstlichen und angespannten Wartens noch um 48 Stunden hinauszuzögern. Auch hier alles mit negativem Befund. Bei den von drei Labors analysierten 20 Proben erwähnt nicht einer der Berichte das Auftreten von Nandrolon oder dessen Metaboliten, nicht ein einziger Sportler unseres Gewichtheberteams war gedopt. Es war alles eine kolossale Lüge, ein infamer und schändlicher Betrug, ein verbrecherischer Entzug von Verdiensten, die mit Selbstlosigkeit, Ausdauer, Aufopferung und Opfern erzielt wurden.

Was unglaublich, ein Traum, ein Unmögliches, ein Wunder schien, hatte sich erfüllt. Deshalb konnte ich am Sonntag nach der Podiumsdiskussion interessante Mitteilungen ankündigen.

Um mit dem Vokabular des Sports zu sprechen, im Baseball hieße es ein no hit, no run; Im Boxsport würde man sagen, daß alle Punkte übereinstimmend waren und kein Richter dagegen stimmte. Der Sieger in der roten Ecke: Kuba, zwanzig zu null.

Wir wissen, wo sie versuchen werden zu widersprechen. Doch wir sind ruhig, denn alles ist unter Kontrolle.

Mir bleiben nur noch die Schlußforderungen, die ich kurz und zusammengefaßt später vorbringen werde. Ich gebe jetzt das Wort weiter an die, die eine gleichermaßen unwiderlegbare Zeugenaussage zu machen haben, und darüber hinaus die biochemischen Analysen, die die Aussagen vervollständigen werden.

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