Dienstag, 19. Mai 1998

Rede des Comandate en Jefe Fidel Castro Ruz vor der Welthandelsorganisation (WTO) in Genf am 19.05.1998

Exzellenzen, WTO-Vertreter, verehrte Delegierte,
im letzten März hat die US-Regierung öffentlich ihre Pläne enthüllt, in denen sie
klarmacht, dass sie in aggressiver und direkter Art und Weise handeln wird, und zwar
auf globaler Ebene für alle Regionen der Welt, und dass die Vereinigten Staaten - als
die wichtigste und erfolgreichste Ökonomie im Welthandelssystem - in einer starken
Position sind, um ihre Kräfte der Überzeugung und ihren Einfluss zu benutzen, um
dieses Programm voranzutreiben, und dass trotz der grundlegenden Öffnung der
Märkte, welche in den letzten Jahren erreicht wurde, immer noch zu viele Schranken
für den Export von Gütern und Dienstleistungen aus den USA in die ganze Welt
bestehen. Dies ist eine erschreckende Sprache.
Darüber hinaus begannen im September 1995 auf Initiative der USA, trotz der
Existenz der WTO - die aus 132 Ländern in verschiedenen Stadien der Entwicklung
besteht -, Diskussionen in den OECD - einem exklusiven Erste-Welt-Club -, um ein
multilaterales Investitionsabkommen zu entwickeln.
Aus Gründen, die klar verbunden sind mit der nationalen Souveränität, wurde der
zugrunde liegenden Idee, dieses Abkommen in der WTO zu diskutieren, mit heftiger
Opposition von vielen Mitgliedern der Organisation bei der Ministerkonferenz in
Singapur im Dezember 1996 begegnet.
Die Übereinstimmung, die bei dieser Konferenz erreicht wurde, hielten die OECD
(wie gesagt: zusammengesetzt aus hochentwickelten Ländern) nicht davon ab, mit
den Verhandlungen über das multilaterale Investitionsabkommen fortzufahren. Von
dem Moment an, in dem die Vereinigten Staaten begannen, grundlegende Aspekte
des Helms-Burton-Gesetzes in das Abkommen einzuführen, kamen die
Verhandlungen zu einem Stillstand, es waren nur noch die USA und Europa mit
einbezogen, die verbleibenden 13 Nationen der OECD waren marginalisiert.

Dieses Gesetz illustriert die Massnahmen, die die USA in ihrem Wirtschafiskrieg
gegen Kuba ergriffen haben. Die exterritoriale Natur dieser und anderer
Massnahmen gaben Anlass für eine Situation, in der die Europäische Union die
Schaffüng einer speziellen Abteilung innerhalb der WTO beantragte, was am
20.11.1996 angenommen wurde. In der Folge wurde am 11.4.1997 eine Übereinkunfi
auf der Grundlage der speziellen Verpflichtung der Vereinigten Staaten bezüglich der
Ergänzung und Modifikation des Helms-Burton-Gesetzes erzielt. Die Europäische
Union, die die WTO nicht schwächen wollte, setzte die Aktivitäten für die Eröffnung
einer speziellen Abteilung provisorisch aus.
In einem überraschenden und ausgeklügelten Manöver wechselten die USA die
Position, vom selbst unter Nachforschung stehenden zu einer, von der aus sie selbst
neue Regeln des Internationalen Rechts innerhalb der WTO aufzwingen, und
versuchen, im MAI rückwirkend die - ihrer Meinung nach - illegale Natur der in den
1950ern durchgeführten Verstaatlichungen festzuschreiben.
Dieses Datum stimmt zufällig überein mit dem Sieg der Revolution in Kuba, und das
Prinzip ist auch anwendbar auf jede Verstaatlichung, die in anderen Ländern nach
1959 stattgefunden hat. Auf diese Art und Weise versuchen sie, die Grundsätze des
Helms-Burton-Gesetzes zu internationalisieren, unter dem Schirm eines
multilateralen Abkommens. Dieses Gesetz, das in keiner Weise geändert wurde,
transformiert willkürlich Menschen, die zur Zeit der Enteignung kubanische Bürger
waren, in US-Bürger, die Enteignungen erlitten haben.
Die Blockade war ihrer Natur nach seit bedenkenswerter Zeit exterritorial, sogar vor
der Inkraftsetzung dieses beschämenden Gesetzes. Jeder US-Firma, mit Firmensitz
in irgendeinem Land, wird von der US-Regierung der Handel mit Kuba verboten. Das
ist eine Verletzung der Souveränität und dadurch exterritorialer Natur.
Die Welt hat gute Gründe, sich herabgesetzt zu fühlen und betroffen, und die WTO
sollte in der Lage sein, wirtschaftlichen Genozid zu verhindern. Jede Differenz, die
möglicherweise zwischen den USA und der EU wegen dieses Gesetzes besteht,
sollte nicht zu Lasten Kubas bereinigt werden. Das wäre eine unvorstellbare
Entehrung für Europa.

Die Übereinkünfte von London gestern sind verwirrend, widersprüchlich, eine Bedrohung für viele Länder und komplett unethisch. Die Wirtschaftsblockade hat Kuba bereits $60 Mrd. gekostet.
In den letzten Jahren haben die USA mehr als 40 Gesetze und Durchführungsverordnungen verabschiedet, um unilateral wirtschaftliche Sanktionen gegen 75 Nationen, die 42% der Weltbevölkerung repräsentieren, zu verhängen. Die USA haben beinahe alles erreicht, was sie durch die Abkommen, die die WTO aufwerten, erreichen wollten, insbesondere durch die Allgemeine Übereinkunft über Dienstleistungen, ein lang gehegter Traum von ihnen. Desgleichen in den Abkommen über geistiges Eigentum in Bezug auf den Handel, ein Gebiet, auf dem sie eine privilegierte Position innehaben dank ihrer technologischen Entwicklung und ihrem systematischen Zugriff auf die besten Gehirne der Welt. Einige ihrer Patente haben Exklusivrechte für 50 Jahre festgeschrieben. Nun haben sie bereits weitere Übereinkünfte, die von weiterem grossen Nutzen für die USA sind, erreicht.
Darüber hinaus haben die USA das bemerkenswerte Privileg, das Geld zu drucken,
in dem die meisten ausländischen Wahrungsreserven in Zentralbanken und
Handelsbankdepots in der Welt gehalten werden. Während sie das Land sind,
dessen Bürger am wenigsten sparen, kaufen ihre Transnationalen Konzerne die
Reichtümer der Welt mit Geld, das von den Bürgern anderer Länder gespart wurde,
und mit Banknoten, die ohne die in Bretton-Woods vereinbarte Gold-Deckung, die
1971 unilateral eliminiert wurde, gedruckt werden.
Und daher: Wenn der EURO als starke und angesehene Wähung etabliert wird, wird
er willkommen geheissen, denn er wird der Weltwirtschaft zum Guten dienen.
Neue Themen, die von reichen Ländern in die Diskussion in der WTO eingeführt
werden, bedrohen die Wettbewerbschancen von Entwicklungsländern unter
Bedingungen, die bereits so schwierig und ungleich sind, dass sie zweifellos als
perfekte Vorbereitung dienen werden für die Einführung von Zollfreiheitsgrenzen,
oder den Zugang von Produkten aus Entwicklungsländern zum Markt verhindern
werden.
Drittweltländer haben schrittweise alles verloren: Zölle, die sich entwickelnde
Industrien schützten und Einkommen schufen, Übereinkünfte über Basisprodukte,

Zusammenschlüsse der Produzenten, Preisbindungen, bevorzugte Behandlung oder
irgendeinen anderen Mechanismus, um den Wert ihrer Exporte zu schützen und
Entwicklung zu ermutigen.
Was wird uns angeboten? Warum werden die ungerechten und ungleichen
Handelsbedingungen nicht benannt? Warum erwähnen wir nicht langer die
unerträgliche Last der Auslandsschulden? Warum wird die Entwicklungshilfe
gekappt?
Wenn alle entwickelten Länder das Gleiche täten wie Norwegen, könnten die Länder
der Dritten Welt $200 Mrd. für die Entwicklung erwarten. Norwegens Beispiel sollte
gefolgt werden. Wie werden wir leben? Welche Güter und Dienstleistungen werden
wir exportieren? Welche Industrieprodukte werden sie uns lassen? Nur Niedrig-
Technologie und arbeitsintensive und abgasintensive Produktion? Wird ein Versuch
gemacht, den grössten Teil der Dritten Welt in eine Freihandelszone zu verwandeln,
voll mit maquiladoras, die noch nicht einmal Steuern zahlen? Warum verhindert die
grösste wirtschaftliche Macht der Welt den Beitritt von China, das 1/5 der Bewohner
dieses Planeten hat? Warum verhindern sie den Beitritt von Russland und anderen
Ländern? Kein Land, gross oder klein, kann oder darf ausgeschlossen werden von
dieser wichtigen Institution oder den Beitritt nur zu herabwürdigenden Bedingungen
gestattet bekommen.
Wir Entwicklungsländer können uns nicht erlauben, gespalten zu sein. Einheit ist die
einzige Waffe, die wir haben, die einzige Garantie für unsere legitimen Ansprüche.
Die von uns, die bis gestern Kolonien waren und heute immer noch unter den Folgen
dieser Vergangenheit, Armut und Unterentwicklung, leiden, sind die Mehrheit in
dieser Organisation. Jeder von uns hat eine Stimme, und die müssen wir verwandeln
in ein Instrument des Kampfes für eine bessere und gerechtere Welt. Wir müssen
uns ausserdem verlassen auf verantwortungsbewusste Staatsmänner, die ohne
Zweifel in vielen entwickelten Ländern existieren und die sensibel sind für unsere
Situation.
In der Mitte von so viel Euphorie kann niemand für den Bestand des US-Wirtschaftssystems, das von den blinden Gesetzen des Marktes regiert wird, garantieren. Niemand kann verhindern, dass die Finanzluftblase platzt.

Es gibt keine ökonomischen Wunder. Das ist zur Genüge gezeigt worden. Die absurd
aufgeblähten Aktienpreise auf dem US-Aktienmarkt - obwohl sie zweifellos die
stärkste Ökonomie der Welt sind - können nicht aufrechterhalten werden. In solchen
Situationen hat die Geschichte keine Ausnahmen aufgezeigt, aber jetzt wird jede
grosse Krise eine globale sein und undenkbare Konsequenzen haben, sogar für die
von uns, die Gegner des etablierten Wirtschaftssystems sind. Es wäre gut für die
Welthandelsorganisation, diese Risiken einzuschätzen und aufzunehmen unter ihre
sogenannten neuen Diskussionsthemen: Was ist zu tun im Fall einer weiteren
Weltwirtschaftskrise?
Vielen Dank.