Mittwoch, 29. September 1999

Rede auf der Veranstaltung anläßlich des 50. Jahrestages der Gründung der Volksrepublik China

Rede des Vorsitzenden des Staatsrates der Republik Kuba, Fidel Castro Ruz, auf der Veranstaltung anläßlich des 50. Jahrestages der Gründung der Volksrepublik China im Veranstaltungsraum "Sala Universal" des Ministeriums der Revolutionären Streitkräfte am 29. September 1999, "Jahr des 40. Jahrestages des Sieges der Revolution

Wie Sie sehen konnten, wollte man bereits die Vorhänge schließen (Lachen); doch ich blickte auf die Uhr und sah, daß uns zufällig noch etwas Zeit verblieben war. Daher meinte ich, man könnte lohnenderweise diese Minuten nutzen und einige kurze Gedanken zu dem hinzufügen, was hier gesagt wurde.

Vor Tagen schon, als wir mit einer großen Anzahl von Aktivitäten beschäftigt waren, kam mir mit gewisser Häufigkeit die Idee, daß sich der fünfzigste Jahrestag des Sieges der Revolution in China, und zwar nicht nur der Revolution, sondern auch der Unabhängigkeit Chinas, nähert und daß es sich hierbei um einen wahrlich sehr bedeutsamen historischen Gedenktag handelt.

Immer wieder werden derartige Ausdrücke benutzt, doch in diesem Fall stehen wir vor einer realen Tatsache, einem Datum von realer historischer Bedeutung, und ich stellte mir die Frage: Wie werden wir diesen Tag begehen? Welche Bedeutung werden wir ihm verleihen? Deshalb hatte ich nach dem Programm gefragt, das ablaufen sollte. Ich fragte den Botschafter und zuerst sagte er mir, es fände am Abend des 30. September ein Empfang in der Botschaft statt, zu dem er mich herzlich einlade. Ich antwortete: "Botschafter, der Abend des 30. September ist nicht der Jahrestag des Sieges der chinesischen Revolution!" Und er sagte mir: "Doch, weil nämlich um diese Zeit des 30. September in China bereits der 1. Oktober ist." Und so organisierten sie den Empfang nicht für den 2. Oktober, d.h. wenn er wie üblich am 1. Oktober stattgefunden hätte. Findet er also morgen Abend, den 30. September statt, so fällt er genau auf den Morgen des Gründungstages der Volksrepublik China. Ich weiß sogar, daß einige Fernsehgeräte vorbereitet wurden, damit die Gäste die Militärparade und den Umzug sowie die Gedenkfeierlichkeiten auf dem Platz Tiananmen verfolgen können.

Der Augenblick, als der Botschafter daran erinnerte, daß Kuba als erstes Land Lateinamerikas die Volksrepublik China anerkannte und Beziehungen zu ihr aufnahm, war für mich eine große Genugtuung, denn die damalige Blockade und die Bestrebungen der völligen Isolierung des Landes waren sehr stark; dazu der absolute Gehorsam in unserer Hemisphäre gegenüber den Vereinigten Staaten, wo sogar viele Länder - wie unsere großen Brüder der Karibikinseln englischsprachigen Ursprungs - noch nicht unabhängig waren. Die Unabhängigkeit jener Inseln hat die Befähigung zur Unabhängigkeit und ihren Geist in dieser Hemisphäre verstärkt. Doch hier in Lateinamerika wie auch an vielen anderen Orten der Welt unterhielt niemand Beziehungen zur Volksrepublik China.

Da auch wir am 1. Januar 1959 unsere Unabhängigkeit errangen, war also bis zur Aufnahme der Beziehungen zur Volksrepublik China nicht viel Zeit vergangen.

Doch er erinnerte sich an noch etwas, nämlich als die kubanische Revolution siegte, wurde China im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen von Taiwan vertreten. Es gab damals unter den ständigen Mitgliedern des Sicherheitsrates nur ein einziges Land, das kein Verbündeter der Vereinigten Staaten war, die Sowjetunion. Und ein weiterer Beweis des vom Imperialismus ausgehenden Zwanges ist die Tatsache, daß sie völlig mißachteten, absolut nicht wissen wollten, daß das bevölkerungsreichste Land der Welt, das unter den Ländern der Neuzeit, wir könnten sagen, älteste Land, die älteste Zivilisation der Welt weder in jener Vollversammlung noch im Sicherheitsrat vertreten war, worauf es allen im Zweiten Weltkrieg unterzeichneten Abkommen zufolge ein Recht hatte.

Sie hielten in Taiwan die gestürzte Marionettenregierung an der Macht, die Verbündeter der Vereinigten Staaten blieb. Und wir hatten Jahr für Jahr hart, sehr hart zu kämpfen, viele Länder, im wesentlichen die der Dritten Welt, unter ihnen auch Kuba. Wie wir heute gegen die Blockade kämpfen, galt unser Kampf damals der Anerkennung des Sitzes der Volksrepublik China in den Vereinten Nationen und im Sicherheitsrat unter den fünf ständigen Mitgliedern.

Dies wurde 1971 erreicht; man konnte sich schon nicht mehr jener Bewegung der Weltöffentlichkeit und der wachsenden Unterstützung einer immer größeren Anzahl von Mitgliedsländern der Vereinten Nationen entgegenstellen, denn in jener Zeit errangen viele Länder Afrikas und anderer Regionen der Welt ihre politische Unabhängigkeit; darunter sehr gewichtige Länder wie Indien, das an Bevölkerungsdichte China folgende Land, das nach dem Zweiten Weltkrieg seine Unabhängigkeit erzielt; Indonesien, ein weiteres bevölkerungsreiches Land Asiens, wird ebenfalls unabhängig; Japan war jahrelang besetzt, bis man ihm schließlich nach und nach seine Vorrechte als souveräner Staat gewährte. Viele andere Länder im Nahen Osten, in Ozeanien, die Karibik habe ich bereits erwähnt, wurden unabhängig. So kamen immer mehr Länder hinzu und es waren in diesem Kampf die Beständigkeit und die Beharrlichkeit, die letztendlich diesem elementaren Recht Chinas zum Durchbruch verhalfen.

Heute, nach 26 Jahren, erlangt jenes Ereignis seine, ich würde sagen, volle Gültigkeit unter den heutigen Gegebenheiten der Welt, und zwar aufgrund der Bedeutung und des Gewichts, die China heute hat und die unvergleichlich größer sind als zu dem Zeitpunkt, als das Land als ständiges Mitglied des Sicherheitsrates angenommen wurde.

China ist das Land des Sicherheitsrates, das am wenigsten von seinem Vetorecht Gebrauch gemacht hat, es hat dieses Recht nur in ganz besonderen Ausnahmefällen ausgeübt - Alarcón weiß vielleicht, wie oft es der Fall war. Der "Herr der Welt" - in Anführungsstrichen, denn er ist nicht der Herr der ganzen, sondern nur fast der ganzen Welt - hat von diesem Recht unendliche Male Gebrauch gemacht.

Heute besitzt die Dritte Welt ein Freundesland, jene Dritte Welt, die China so viel Unterstützung geleistet hat. Sie hat einen Freund im Sicherheitsrat und unter dessen ständigen Mitgliedern.

Hier wurde nichts gesagt zu den Leiden des chinesischen Volkes, den Riesenopfern jenes Volkes nach dem Sieg seiner Revolution und der Erlangung der Unabhängigkeit, und mir kam das alles ins Gedächtnis. Ich muß das so sagen, denn das Land war, ebenso wie Kuba, bis zum Sieg der Revolution nicht vollkommen unabhängig. Sie waren beispielsweise recht lange Zeit wirtschaftlich blockiert, fast völlig isoliert in diesem Bereich. In den ersten Jahren konnten sie sich auf die Zusammenarbeit der Sowjetunion stützen, doch nur in gewissem Maße, denn die Sowjetunion hatte auch gerade erst einen furchtbaren Krieg hinter sich, der ihre Industrie, ihre Landwirtschaft, ihre Infrastruktur in einem faktisch zerstörten Zustand hinterließ. Sie bot ihnen etwas Unterstützung, eine gewisse Unterstützung, die, wie ich weiß, von den Chinesen sehr geschätzt wurde, bis es dann zu Differenzen und Schwierigkeiten kam.

Eigentlich möchte ich über diese Aspekte nicht sprechen. Doch ich erinnere mich an die Jahre der Wirtschaftsblockade Chinas; und ich erinnere mich auch, als die US-amerikanischen Truppen unter dem Befehl von MacArthur in den Korea-Konflikt eingriffen - ein Land, das sie teilten und noch geteilt halten - und bis an die Grenze zu China vordrangen. So mußten also sehr kurze Zeit nach Beendigung des Befreiungskrieges nicht weniger als eine Million chinesischer Freiwilliger zu den Waffen greifen, um in jenem Krieg Seite an Seite mit dem koreanischen Volk zu kämpfen und den Interventionstruppen der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten eine ernste und kolossale Niederlage zuzufügen, bis die vor jenem Krieg bestehende Situation, das heißt der Bestand der jetzigen Grenze zwischen den beiden Teilen Koreas, wiederhergestellt war. Dieses Ereignis darf man nicht vergessen, ebenso nicht die Hunderttausenden von Menschenleben, die es die Chinesen gekostet hat.

Ich habe mich mit einigen Teilnehmern dieser Gegenattacke unterhalten. Sie kämpften bei erbarmungsloser Kälte, Bergregionen überquerend, ohne maschinelle Mittel, wobei der Luftraum vollkommen von den Vereinigten Staaten und ihren Verbündeten beherrscht war, die sogar mit dem Einsatz von Atomwaffen drohten. In der Verzweiflung der Niederlage sprachen sich in den Vereinigten Staaten nicht wenige dafür aus, hinter der chinesischen Grenze anzugreifen, denn trotz dem Riesenunterschied in der Militärtechnik drangen die chinesischen Kämpfer unaufhaltsam vorwärts, bis sie dorthin gelangten, wo diese Grenzlinie noch existiert. Es war eine ungeheure Schlacht.

Danach wurde die Wirtschaftsblockade fortgesetzt. Ebenfalls danach intervenieren die US-Imperialisten in Vietnam und lösen ihren völkermörderischen Krieg aus. Hier zeigte sich nun die Solidarität Chinas mit dem vietnamesischen Volk. Damals waren es zwei Länder, China und die UdSSR, die den Vietnamesen, die nach heldenhaften Kämpfen den Sieg errangen, Waffen lieferten und politische Unterstützung leisteten. Dieser Sieg wird um das Jahr 1970 herum errungen. Kuba leistete seinen bescheidenen Beitrag: eine unentgeltliche jährliche Zuckerlieferung für die Vietnamesen während der Kriegsjahre. Es ist nicht besonders erwähnenswert, doch es ist Ausdruck des guten Willens und Solidaritätsgeistes unseres Volkes, das dazu noch absolute politische Unterstützung leistete. In unserem Volk entstand auch ein überaus starkes Solidaritätsgefühl für Vietnam.

Sie sehen, wieviele Schicksalsschläge die Chinesen nach dem Krieg hinnehmen mußten und wie lange Zeit diese Situation anhielt. Doch der Imperialismus erlitt eine Niederlage nach der anderen. Die Korealektion war sehr aufschlußreich; die Vietnamlektion war sehr aufschlußreich; und ich würde sagen, das Durchhaltevermögen Kubas angesichts der Blockaden, Söldnerinvasionen, Drohungen mit Atomkrieg und all jenen Dingen war auch in gewissem Maße aufschlußreich in diesem Kampf, der der Welt bewies, daß es möglich war, den Imperialismus zu bekämpfen und zu besiegen. Die Chinesen hatten viele Jahre lang unter einer harten Wirtschaftsblockade zu leiden, etwas weniger Zeit als wir, die wir in dieser Hinsicht Rekordhalter sind. Sie waren 28 Jahre lang blockiert, bei uns sind es bereits 40 Jahre.

Die genannten Fakten sind ein unwiderlegbarer Beweis dessen, daß diese verbrecherischen Politiken nicht ewig andauern können.

Nach all den vielerorts erlittenen Schlägen kamen die Vereinigten Staaten zu der Einsicht, daß ihre Chinapolitik unhaltbar geworden war, und zwar nicht nur unhaltbar aus rechtlicher Sicht, aus der Sicht der politischen Prinzipien, der Charta der Vereinten Nationen und allem anderen, sondern unhaltbar auch aus der Sicht ihrer ökonomischen Interessen. China war ein enormer potentieller Markt, auf den sie nicht verzichten konnten. In dieser Hinsicht haben die Chinesen schon einen großen Vorteil... Nun, sie haben in vielen Dingen Vorteile, doch in dieser Hinsicht hatten sie Kuba gegenüber einen Riesenvorteil, und zwar betrug ihre Bevölkerung - jetzt sind sie anzahlmäßig etwas mehr - zirka das 120fache der Einwohnerzahl Kubas, ihr Territorium erstreckt sich - wie hier bereits erwähnt - über 9,6 Millionen Quadratkilometer, beträgt also fast das Hundertfache des unseren, und es ist ganz ohne Zweifel ein Land mit außerordentlichen natürlichen Ressourcen.

Ich könnte noch andere Vorteile hinzufügen. Sie befanden sich nicht mitten im Westen so wie wir, die wir zum großen Teil Träger der von diesem Westen übernommenen Kultur sind. China besaß als großen Vorteil für sein Volk eine tausendjährige Kultur, eine ureigene und sehr komplizierte Sprache und Schrift. Es ist nicht gerade eine einfache Sprache, nicht eben lateinischen, noch, sagen wir, westlichen Ursprungs. Sie sprachen eigentlich eine tausendjährige Sprache. Meine Kenntnisse sind nicht ausreichend, um zu wissen, wie ihre Entwicklung seit jenen Epochen vor unserer Zeitrechnung verlaufen ist. Diese kulturellen Faktoren sind eine sehr bedeutende Kraft bei der Verteidigung der Identität, der Integrität und der Unabhängigkeit. Ein großes Land, weniger empfänglich für das Eindringen der westlichen Kultur, die uns umgibt.

Aus den Worten des Botschafters sehen Sie: Sie hatten nach mehr als 25 Jahren der Konflikte, Kriege und Blockade bereits äußerst wichtige Rechte wie jenen Sitz im Sicherheitsrat und die wachsende Achtung der Welt zurückerobert und das, wie der Botschafter sagte, trotz Fehlern und Schwierigkeiten verschiedener Art in der Innenpolitik des Landes zu einem gegebenen Zeitpunkt, als dem Westen nichts anderes übrigblieb als sämtliche Rechte Chinas anzuerkennen. Als alle Blockaden fielen, können Sie sehen, mit welchem außerordentlichen Wachstumstempo sich dieses Land entwickelte.

Was er hier verlesen hat - vor ein paar Minuten sah ich eine Kopie seiner Rede durch, und ich hatte es bereits bei einigen Auftritten des Botschafters gehört - hat keinen Vergleichsfall in der Geschichte der menschlichen Gesellschaft: ein 21 Jahre anhaltendes durchschnittliches Wachstum von 9,8 %. Ich habe einmal berechnet, wie oft sich in diesem Zeitraum die Produktion verdoppelt hat. Schon davor waren bedeutende Fortschritte erzielt worden. Ich kann mich erinnern, daß die Chinesen nach dem revolutionären Sieg zur Vermeidung von Überschwemmungen und zur Verbesserung der Bewässerung in Handarbeit große Dämme anlegten. Viele Vorhaben aller Art wurden umgesetzt und vom ersten Tag nach dem Sieg der Revolution an haben sie soziale Programme eingeleitet. Der ökonomische Fortschritt wurde jedoch unzweifelhaft von der Wirtschaftsblockade behindert, wozu noch subjektive Faktoren kamen.

Als dann - ich wiederhole - alle die Rechte Chinas anerkennen mußten, alle Blockaden fielen und sie selbst bestimmte Fehler berichtigten - ich sage nicht, daß es sich um Fehler handelt; es sind ihre Standpunkte, und wir haben kein Recht, über die internen Ereignisse in China Richter zu spielen; doch sie hatten, wie der Botschafter erläuterte, bestimmte Berichtigungen vorgenommen und bestimmte Fehler überwunden, und jeder macht Fehler, das kann man nicht leugnen - also danach erreichten sie den beeindruckenden Rekord, denn er erwähnt vor allem das Wachstum in den letzten 21 Jahren nach 1978. Es gibt keinen Vergleichfall. Niemals gab es eine ähnliche Ziffer.

Es ist eine echte Genugtuung, hier den Botschafter bekräftigen zu hören, daß diese Erfolge möglich wurden auf dem Fundament einer politischen Ideologie, auf dem Fundament einer politischen Wissenschaft, auf dem Fundament des Marxismus-Leninismus. Dazu kamen die bedeutenden theoretischen Beiträge von Mao Tse-tung, theoretische Beiträge zum politischen Kampf, theoretische Beiträge zum revolutionären Kampf, theoretische Beiträge zum Marxismus. Später kamen die theoretischen und praktischen Beiträge Deng Xiaopings hinzu. Dazu noch ein Merkmal, das nicht übersehen werden darf: der Fleiß des chinesischen Volkes. Es ist ein wirklich sehr fleißiges, sehr arbeitsames Volk und als solches allerorts auf der Welt anerkannt, so auch in Kuba, denn sie befaßten sich mit der Landwirtschaft, speziell mit der Gemüseproduktion und leisteten hierbei einen großen Beitrag zur Versorgung der Stadtbevölkerung mit frischen Erzeugnissen.

So ist also dieser Arbeitsgeist ein wichtiger Aspekt, der meines Erachtens ebenfalls zu den Erfolgen des chinesischen Volkes beigetragen hat, mit einer Theorie und durch eine Revolution, die neben einschneidenden sozialen Veränderungen die Unabhängigkeit jener großen Nation erkämpfte. Eine wahrhaft beispielgebende Revolution, wenn man von ihren Wurzeln ausgeht, seit in den zwanziger Jahren die erste Grundorganisation der Kommunistischen Partei Chinas gegründet wurde; wenn man ihre reiche Geschichte betrachtet und - unter den hervorragendsten Ereignissen - den langen Marsch, eine militärische Heldentat, die ebenfalls ohnegleichen ist in der Geschichte, und die Geschichte berichtet von vielen militärischen Heldentaten.

Wir haben einige Bücher darüber gelesen, wie es Tag für Tag vorwärts ging, stets umgeben von großen feindlichen Einheiten der Marionettenregierung, die mit allen erforderlichen Waffen ausgerüstet war und Hunderte von Divisionen hatte. Und jene militärische Heldentat wurde unter ausgesprochen schweren Bedingungen vollbracht, stets umzingelt von großen Truppeneinheiten, stets den Feind überlistend, Hindernisse der Natur überwindend, die zuweilen schneebedeckte Berge und auch reißende und breite Flüsse waren, bis sie an den Ort gelangten, wo sie viele Jahre lang einen Stützpunkt errichtet hatten, in dem sie sich während des Befreiungskrieges aufhielten.

Es gab eine Zeit, in der die anderen, die sogenannten Nationalisten, die Marionetten, die Reaktionäre, sich der ausländischen Invasion, den japanischen Militaristen, widersetzten und sich in gewissem Sinne mit den chinesischen Revolutionären zusammenschlossen. Doch jene, die weder dem Volk noch der wahren Unabhängigkeit des Landes dienten, begingen jegliche Art von Fehlern und zeigten jegliche Art von Schwächen. Es kam vor, daß die Kommunisten gegen die sogenannten Nationalisten von Tschiang Kai-schek und gegen die japanischen Truppen zu kämpfen hatten. Und trotzdem leisteten sie einen entscheidenden Beitrag zur Niederlage der japanischen Militaristen. Auch diese Realitäten stehen auf den Seiten der neueren Geschichte Chinas.

Und jene, die sich nach Ende des Zweiten Weltkrieges in die Dienste der Reaktion und des US-Imperialismus stellten, wurden vernichtend, überzeugend und unumkehrbar geschlagen. Sie flüchteten auf die kleine Insel Taiwan, die Bestandteil des chinesischen Landesterritoriums ist, so wie uns die an der Nordküste Kubas vorgelagerten Inselchen gehören; mehr noch als die Isla de la Juventud, denn Taiwan gehörte während eines unendlich längeren Zeitraums zu China. Die dort lebenden Menschen besitzen die chinesische Nationalität, sprechen chinesisch und sind Träger der chinesischen Kultur, wie stark auch der westliche Einfluß auf sie sein möge. Ihre Zugehörigkeit ist ein unfragwürdiges Recht der chinesischen Nation. Man kann absolut nicht bestreiten, daß dies ein internes Problem Chinas ist und daß niemand das Recht hat, sich einzumischen. Das ist es ja gerade, was sie fordern, nämlich die Achtung vor der Souveränität des Landes, die Achtung vor der Integrität des Landes und die allgemeine Anerkennung dieses Rechts. Gefordert wird nicht der Anschluß einer anderen Nation, einer anderen Ethnie, einer anderen Kultur.

Es ist sogar so, daß die Taiwanesen noch bis vor kurzem, vor allem in den 22 Jahren, als sie im Sicherheitsrat waren, von nur einem absolut integrierten China sprachen; bis vor kurzem noch haben sie diese Sprache gesprochen.

Nun, welche war die erste militärische Intervention der Vereinigten Staaten zur Abtrennung Taiwans? Ich kann mich erinnern. In den Tagen des Koreakrieges schaltet sich die US-amerikanische Flotte ein und stellt sich zwischen das Festland und die Insel Taiwan. Das kann man nicht vergessen. Jene Situation wurde mit Gewalt aufrechterhalten. Das Land war damals nicht in der Lage, eine Schlacht zu schlagen, und das Land wollte diese Schlacht auch nicht schlagen. Das Land fordert seine Rechte, fordert seine Anerkennung und wünscht eine friedliche Lösung des Problems. Was es mit vollem Recht anführt ist, daß es den Verlust eines Teils seines Territoriums, ein Zerstückeln des Landes durch die Ausrufung und Anerkennung einer unabhängigen Republik in Taiwan, nicht zulassen wird. Sie haben es recht kategorisch erklärt, daß sie es nicht zulassen werden, und ich bin sicher, daß dem so ist, so wie ich gleichzeitig die Hoffnung hege, daß dieses Problem sowie das der theoretischen und praktischen Anerkennung der unveräußerlichen Rechte Chinas ohne jegliche Art von Krieg und Blutvergießen gelöst werden.

In Wirklichkeit ist es heute so, daß, während die Vereinigten Staaten und andere westliche Länder von der Existenz eines einzigen China reden, sie der Separatistenregierung der Insel die modernsten und ausgeklügeltsten Waffen liefern und die Bewegung gegen die Integrität Chinas nähren.

Der Botschafter erinnerte an die Hongkong-Frage; auch Machadito berührte sie. Sie haben es verstanden, die nötige Geduld aufzubringen bis zu dem Tag, als dem Westen und der Welt nichts anderes blieb als die Anerkennung des Rechts der Volksrepublik China auf die Wiedereingliederung dieses Stücks ihres Territoriums, daß man ihr in den schmachvollen Kolonialkriegen entrissen hatte.

Heute wird viel gegen den Drogenhandel vorgebracht. Damals bemächtigte sich das britische Imperium jenes Territoriums, und die westlichen Mächte lösten den Krieg aus und entsandten Truppen, die bis nach Peking vordrangen, um das Recht westlicher Mächte auf den Opiumhandel in China aufzuzwingen. Das ist die historische Wahrheit.

Es wurde auch daran erinnert, daß sie China in diesem Jahr Macao zurückgeben werden, dieses kleine im Besitz eines europäischen Landes befindliche Stück Territorium. Es soll auf friedlichem Wege geschehen, was dank der chinesischen Geduld so vereinbart wurde. Von dieser Geduld müssen wir alle lernen, und zum Teil haben wir es schon. Und sollten wir nichts davon gelernt haben, so haben wir es uns selbst vorgenommen, denn Pflicht eines jeden Revolutionärs ist es auch, mit der erforderlichen Klugheit vorzugehen.

Sie haben gewartet und werden jenes Territorium in diesem Jahr in Besitz nehmen. Zur Erleichterung der Dinge erdachten sie das Prinzip eines Landes und zweier Systeme. Sie versprachen denen in Hongkong, das dort bestehende sozioökonomische System und die bestehenden Institutionen beizubehalten, jedoch unter chinesischer Staatsgewalt. Das gleiche, sogar noch umfassender, haben sie Taiwan angeboten. Doch ein Beweis des friedliebenden Geistes Chinas ist die Tatsache, daß sie sich trotz der Unmöglichkeit der Verteidigung der portugiesischen Enklave Macao keinen Umstand und keine Konjunktur zunutze gemacht haben, um sich dieser Enklave zu bemächtigen.

Das ebenfalls sehr bevölkerungsreiche Nachbarland Indien hatte nicht diese Geduld und bemächtigte sich in einem bestimmten Augenblick einer portugiesischen Enklave, die sich auf indischem Territorium befand.

Das ist ein gutes Beispiel des friedliebenden Geistes der Volksrepublik China. Zur Wiedereinverleibung dieses Territoriums griffen sie nicht zur Gewalt. Mit der Hilfe der Zeit und der internationalen Unterstützung gewinnen sie all jene Rechte zurück, die man ihnen entrissen hatte.

Der Botschafter erwähnte, wie das Land zerstückelt worden war. Er hätte noch viele Dinge sagen können. Ich erwähnte jene Opiumgeschichte. Wie viele Verbrechen sind bis Mitte dieses Jahrhunderts gegen diese große Nation verübt worden! Wieviele Rechte wurden ihnen abgesprochen und aberkannt, bis sie im Verlauf von faktisch zwei Dritteln dieses Jahrhunderts zurückgefordert wurden!

Die Völker sind zu achten! Ihre territoriale Integrität ist zu achten! Es ist jetzt nicht an der Zeit, Länder zu zersplittern, wo doch viele durch Grenzen, Fahnen und Hymnen voneinander getrennte Völker für die Integration kämpfen. Europa kämpft für die Integration, es vereinigt sich und fegt praktisch die Grenzen hinweg; die Länder der Karibik kämpfen für die Integration; die mittelamerikanischen Länder kämpfen für die Integration; die Länder Südamerikas kämpfen für die Integration. Lateinamerika kämpft dafür. In der Zukunft wird kein kleines Land für sich allein existieren können.

Ich sage noch mehr. Die Schweiz, ein Land, das seine Souveränität traditionell sehr hütet und das zum Teil dank seiner ausgezeichneten geographischen Lage, mitten in den Alpen, im Ersten und im Zweiten Weltkrieg neutral bleiben konnte - und in der Schweiz, das weiß ich, denn ich war dort und habe mit den Führungspersönlichkeiten gesprochen, waren sämtliche Führungskräfte für den Anschluß an die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft; auch 49 Prozent der Bevölkerung, es fehlt nur ein kleiner Bruchteil bis zur Mehrheit -, dieses Land könnte also in den Alpen nicht allein weiterleben, isoliert vom Rest der Europäischen Union. Die Schweiz geht also unbeirrbar in Richtung Integration in diese Gemeinschaft.

Wer hat ein Recht, in China den Zerfall zu unterstützen. Wer hat ein Recht, die chinesische Forderung auf Anerkennung der Souveränität über Taiwan abzulehnen? Wo doch alle Welt sich integriert, ist es absurd, wenn jemand die Abtrennung eines Stücks vom chinesischen Territorium proklamiert.

Sehen Sie doch das Unglück, das die Desintegration den ehemaligen Ländern der Sowjetunion gebracht hat. Es ist eine Desintegration, damit sich alle, hauptsächlich die Vereinigten Staaten, mit ihren Investitionen und der Errichtung ihrer Hegemonie, der Beherrschung und Besitzergreifung über die wesentlichen Ressourcen jener früheren Republiken beeilen können, und zwar hauptsächlich in Bezug auf Erdöl und Erdgas, wovon - neben anderen Erzen - es in mehreren dieser Republiken sehr reiche Vorkommen gibt.

Die Welt bewegt sich nicht in Richtung der Desintegration, sondern in Richtung der Integration. Das ist nicht nur ein historisches Recht, sondern ein Prinzip der heutigen Welt, ein Erfordernis des Lebens von heute. Das ist es, was die Volksrepublik China fordert. Und die Volksrepublik China von heute, das Land dieses Jahrtausends oder des demnächst einsetzenden neuen Jahrhunderts unterscheidet sich stark von jener Republik, die vor 50 Jahren in einem Land gegründet wurde, das einen langjährigen verheerenden Krieg gegen die ausländische Invasion hinter sich hatte.

Dazu kam der revolutionäre Krieg mit mehr als 20 Jahren erbitterter Kämpfe gegen die inneren und äußeren Feinde des chinesischen Volkes. Das Land zerstört; das Land, das arm war; das Land, das von inneren und äußeren Ausbeutern ausgesaugt worden war. All das mußte neu aufgebaut werden. Ich habe bereits gesagt, unter welchen Bedingungen das erfolgte.

China ist ein Land, dessen Wirtschaft enorm voranschreitet. Es ist interessant, Machadito erwähnte den Beitrag, den sie während der asiatischen Krise leisteten. Es gibt noch etwas anderes: Die Volksrepublik China erwies der Welt in den zurückliegenden Monaten einen außerordentlichen Dienst, besonders seit 1998, während jener Krise, die in Südostasien begann und die ebenfalls Japan, die weltweit zweite Wirtschaftsmacht, in eine äußerst tiefe Krise stürzte, die sich danach auf Rußland ausweitete, bereits die Werte der Aktien an den US-Börsen ernsthaft in Mitleidenschaft zog und direkt drohte, die Wirtschaft Lateinamerikas hinwegzufegen.

Man sehe nur, wie groß die Gefahr war, wenn man sich veranschaulicht, daß die Wirtschaft des gesamten Lateinamerikas 1999 nur um 0,5 % wächst; und wenn sie überhaupt um 0,5 % wächst, dann geschieht dies nur, weil Mexiko, eines der Länder mit einem bedeutenden Anteil in der Region, ein größeres Wachstum beisteuert, das sich auf 4 % oder 5 % belaufen wird. Es gibt Länder, die ein Minuswachstum haben werden, darunter einige wichtige Länder. Es war eine sehr ernsthafte weltweite wirtschaftliche Bedrohung, die noch nicht überwunden ist, man weiß nicht mit Sicherheit, ob sie innerhalb von kurzer Zeit überwunden werden kann, und man ist sicher - wenigstens ich bin es -, daß eine Erholung nicht für lange Zeit andauern wird.

China mußte ein enormes wirtschaftliches Opfer bringen, ohne welches nichts die Krise hätte aufhalten können. Es war mit einer komplizierten Situation konfrontiert, weil seine Exporte Jahr für Jahr anstiegen, doch als die asiatische Krise in einer großen Anzahl von Ländern mit einem gewissen Entwicklungsniveau - die sogenannten asiatischen Tiger, Stolz der neoliberalen Ökonomie, Stolz des Imperialismus als Beispiel für das, was man mittels ihrer unseligen Rezepte erreichen konnte - zu einer Währungsabwertung führte und als das Modell dort innerhalb von Tagen unterging, da die Wirtschaften dieser Länder eine nach der anderen untergingen, mit bereits schwerwiegenden Folgen für die Weltwirtschaft, besonders für die Länder der Dritten Welt, die dieser Krise total schutzlos gegenüberstehen, waren die Chinesen im Nachteil, weil sich die Preise der Güter aller dieser Länder außerordentlich verbilligten, da sie nach der Abwertung ihrer Währungen alles, was sie wollten, zu niedrigen Preisen exportieren konnten.

China hätte den Yuan abwerten können, um sich vor dieser Konkurrenz zu schützen und das Tempo der Exportsteigerungen und mit ihnen ihre ununterbrochenen erhöhten Wachstumsraten beizubehalten. Die Welt erzitterte. Die Welt! Nicht nur die Dritte Welt, sondern auch die industrialisierte Welt erzitterte angesichts der Idee, daß China mit vollem Recht und zum Schutz seiner Exporte und seiner wirtschaftlichen Wachstumsraten den Yuan abwerten könnte. Es tat es nicht, und man hat noch nicht viel von der Anerkennung gehört, die die Volksrepublik China für diesen Dienst verdient, den sie der Welt leistete, und zwar auf Kosten ihrer Wirtschaft.

Das bedeutet, daß China mit einem großen Verantwortungssinn handelte. Das Ansehen des Landes wuchs im vergangenen Jahr mehr als die 7,8 %, von denen Machadito sprach, als er sich auf das Wachstum der chinesischen Wirtschaft bezog. Das Ansehen Chinas muß aufgrund dieser einzigen Tatsache um wenigstens 20 % oder 30 % gestiegen sein, aber ich glaube, daß sein Ansehen einer Steigerung von 200 % würdig war, denn niemand ist fähig, sich die Folgen vorzustellen, die eine in China getroffene Maßnahme dieser Art gehabt hätte. Trotzdem verwehren sie China den Eintritt in die Welthandelsorganisation (WTO), und wir schlagen alle eine Schlacht für den Eintritt Chinas in die WTO.

Europa und die Vereinigten Staaten nehmen sich das Recht heraus zu sagen, ob China eintritt oder nicht, es wiederholt sich zum Teil jene Schlacht in den Vereinten Nationen. Und die WTO ist zu fürchten, denn sie kann ein schreckliches Instrument gegen die Interessen der Dritten Welt sein.

Die Dritte Welt ist daran interessiert, daß China in der WTO ist, die diese Aktivität regelt. Sie ist ohne Zweifel ein Instrument - genau wie andere bereits existierende Instrumente wie der IWF und ähnliche Institutionen, die den berühmten Neoliberalismus aufgezwungen haben, dessen Folgen unsere Landsleute durch die Tausenden von Besucher kennen, die von überallher kommen, und von den Nachrichten in der Presse in bezug auf diese immer schlechter angesehene und immer schädlichere Wirtschaftstheorie -, das als ein Beherrschungsinstrument geschaffen wurde. Alles was der Imperialismus nach dem Zusammenbruch des sozialistischen Lagers geschaffen hat, sind Instrumente zur Stärkung seiner Herrschaft in allen Bereichen. Im wirtschaftlichen Bereich genießt er einige unglaubliche Privilegien, die nicht weiter aufrechterhalten werden können. Die Vereinigten Staaten sind diejenigen, die die Reservewährung der Welt drucken, in die sie nicht mehr als Papier investieren. Die Europäer versuchen, eine weitere Reservewährung zu schaffen, um sich vor jenen Superprivilegien zu schützen, die auf Kosten der Interessen der übrigen Welt existieren, und um in gewisser Weise davon zu profitieren, diese Privilegien zu teilen.

All diese Themen sind Teil der Fragen, die man diskutieren muß, um die bestehende weltweite Ordnung zu verändern, die zu dem erwähnten Zweck errichtet wurde.

Der Club der Reichen, eine Gruppe von reichen Ländern - es sind etwas über zwanzig, ich glaube, daß es jetzt 29 sind - erfand das Projekt einer multilateralen Investitionsvereinbarung, um es danach zu einem internationalen Vertrag zu machen. Heutzutage gibt es bilaterale Vereinbarungen, doch die Mitgliedsländer des als OECD bekannten Clubs erfanden ein Projekt und diskutierten es verdeckt im Stillen, wobei es bereits kurz vor der Ingangsetzung stand. Als einige Personen - in glaube, es war in Frankreich - den Text entdeckten - dessen Inhalt man nicht kannte, wenngleich man wußte, daß darüber diskutiert wurde -, kam es zu einem großen Aufschrei und die Autoren mußten ihr Vorhaben stoppen.

Man hätte darüber in der WTO diskutieren müssen, denn dort sind mehr als einhundert Länder versammelt, und nicht unter den 30 reichsten Ländern. Sie wollten nicht, daß man in der WTO darüber diskutiert, obwohl die WTO ein Instrument ist, das geschaffen wurde, um die wirtschaftliche, politische und anderweitige Hegemonie der Vereinigten Staaten zu stärken. Die USA zwangen dieser Organisation die Bedingungen auf, es handelt sich um ein Instrument des Imperialismus, dafür wurde sie geschaffen, wenn sie auch zu einem Instrument der Völker werden könnte, in dem wir Länder der Dritten Welt die überwiegende Mehrheit stellen. Doch die Völker der Dritten Welt sind sehr gespalten, weil sie aufgrund ihrer Armut eine enorme Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten und den von diesen gegründeten Handelsinstitutionen und Finanzorganisationen ertragen müssen, die oftmals zu ihrer fehlenden Einheit beitragen.

Wenn die Länder der Dritten Welt vereint handeln würden und China sich innerhalb der WTO befinden würde, könnte sich die WTO in ein Instrument der Gerechtigkeit verwandeln, in ein Instrument des Widerstandes gegen das Hegemoniestreben der Vereinigten Staaten, gegen die neue Wirtschaftsordnung, die momentane Wirtschaftsordnung, die sie uns aufgezwungen haben, selbstverständlich zusammen mit dem Widerstand gegen die politische Ordnung, die sie uns ebenfalls aufgezwungen haben, weswegen eine Reform der Vereinten Nationen so wichtig und grundlegend ist. All das hängt miteinander zusammen. Die WTO könnte ein Instrument der Gerechtigkeit sein, wir sind die Mehrheit, wir stellen die Mehrheit in den Vereinten Nationen, und Sie sehen einige Abstimmungen in der UN-Vollversammlung, zum Beispiel die Abstimmungen gegen die Blockade.

Der Vollversammlung gelang es an einem Tag, das durchzusetzen, was ich in bezug auf die Anerkennung des Rechts Chinas im Sicherheitsrat erwähnte, des wirklichen Chinas, des einzigen Chinas, das existiert. Ah, deshalb fordern wir immer mehr Befugnisse für die UN-Vollversammlung, diese Institution muß sich ändern.

Der chinesische Botschafter erläuterte das hier mit Deutlichkeit und erwähnte alle die Konzepte der begrenzten Souveränität, globalen Bedrohungen und des Rechts auf Interventionen wie die, die in Jugoslawien stattfanden, wozu das neue strategische Konzept der NATO hinzugefügt wird, das einige Tage vor jenem völkermörderischen Krieg verabschiedet wurde, wobei es sich um das sich von der NATO selbst zugewiesene Recht auf Intervention in jeglichem Land handelt, sobald es ihr beliebt.

Wie ich sagte, hängen alle diese Probleme mit dem Versuch zusammen, die Vereinten Nationen zu ignorieren, die das einzige sind, was wir haben, eine bestehende weltweite Organisation, die nach dem Zweiten Weltkrieg entstand. Sie entspricht nicht der momentanen Situation der Welt, in der es fast 200 unabhängige Staaten gibt, sie entstand unter Beteiligung von etwas mehr als dreißig oder vierzig Staaten, die nach dem Zweiten Weltkrieg von den siegreichen Mächten angeführt wurden. Es ist unverzichtbar, sie neu zu strukturieren und sie zu demokratisieren, doch das erfordert Taktiken und Strategien. Wenigstens für mich sind die Bedeutung der Verbindungen der Dritten Welt zu China und die Notwendigkeit der Unterstützung Chinas bei dieser unaufschiebbaren Neustrukturierung offensichtlich, denn China ist ständiges Mitglied des Sicherheitsrates mit Vetorecht.

Die Vereinigten Staaten können innerhalb bestimmter Grenzen Hindernisse aufbauen und sie werden das für lange Zeit tun, aber sie müssen darüber diskutieren, genauso wie sie über andere Dinge diskutieren mußten, bei denen sie sich über viele Jahre hinweg weigerten, darüber zu diskutieren, und sie werden ebensowenig verhindern können, daß sich die Vereinten Nationen demokratisieren, und zwar in dem Maße, in dem die Weltöffentlichkeit mobilisiert wird und sich die Völker vereinen.

Er erwähnte diese Prinzipien, die der Imperialismus wegfegen will. Es ist sehr wichtig, hier den chinesischen Botschafter zu hören, wenn er bekräftigt, daß man diese Prinzipien verteidigen muß und daß dies ein wesentlicher Bestandteil der chinesischen Außenpolitik ist.

Glücklicherweise hatten wir gestern die Gelegenheit, dem russischen Außenminister zuzuhören... Weil Rußland existiert, es ist keine Supermacht, aber immer noch eine Großmacht.

Worin besteht meiner Ansicht nach der Unterschied zwischen einer Supermacht und einer Großmacht? Daß ein Land die Macht haben kann, das andere fünfzehnmal zu zerstören, während dem anderen die Fähigkeit bleiben kann, ersteres drei- oder viermal zu vernichten. Doch einmal reicht bereits. Und hoffentlich kommt es nie dazu!

Rußland ist eine Großmacht, China ist eine Großmacht in einem anderen Sinn, und es ist in zahlreichen Aspekten viel mehr eine Großmacht als Rußland. Doch Rußland ist eine atomare Großmacht, es besitzt eine atomare militärische Schlagkraft, über die China nicht verfügt, die China noch nicht besitzt und hoffentlich nicht besitzen braucht.

Was China dazu zwingt, die technologische Entwicklung im militärischen Bereich aufrechtzuerhalten, ist schlichtweg die aggressive Politik gegen das Land, die Einmischung in die inneren Angelegenheiten des Landes, die Verweigerung von elementaren Rechten des Landes und die Bedrohungen, welche all die strategischen Konzepte darstellen, denn jederzeit kann die NATO auch auf die Idee kommen, zu behaupten, daß es eine globale Bedrohung in China gibt und daß man in China intervenieren muß, weil es dort ein internes Problem gibt, ein Problem irgendeiner Art, das entstehen kann. Das ist unbegreiflich, sie maßen sich dieses Recht an. Deswegen sage ich folgendes: Hoffentlich haben sie nicht die Notwendigkeit, zu einer atomaren Großmacht zu werden!

Aber was machen die anderen? Sie investieren mehr und mehr in Waffen und in die militärtechnologische Entwicklung. Kürzlich lasen wir eine Erklärung von einem der wichtigsten Anwärter auf die Präsidentschaft der Vereinigten Staaten, in der er sich verpflichtete, enorme Summen in die militärischen Forschungen zu investieren, um unter anderem die konventionelle Bewaffnung zu perfektionieren. Wofür dient diese ganze Perfektionierung? Wozu alle diese technologischen Entwicklungen, wo doch der kalte Krieg seit einiger Zeit zu Ende ist? Was rechtfertigt diesen Rüstungswahn, wenn nicht die klare Absicht, die Welt zu beherrschen, und zwar nicht nur mittels politischer und wirtschaftlicher Instrumente, sondern auch mit militärischen Mitteln, um die Disziplin in dieser chaotischen Welt aufrechtzuerhalten? Und wir wissen, daß diese Welt chaotisch ist, ich werde nicht versuchen, die Gründe dafür zu erklären, aber wir wissen sehr gut mit allen Details und mit unzähligen Argumenten, warum diese Welt chaotisch ist. Und das kann man weder mit atomaren noch mit konventionellen Waffen lösen. Doch es ist die Verzweiflung, die sie dazu treibt, alle Machtmittel in den Händen haben zu wollen, nämlich die militärischen, politischen und wirtschaftlichen.

Selbst Europa fühlte sich durch die "großartige" Rolle gedemütigt, die es beim Krieg gegen Jugoslawien spielte, da 100 % der Bomben in den USA hergestellt und 90 % der Einsätze von der Luftwaffe und den Raketen der Vereinigten Staaten durchgeführt wurden. Es fühlte sich so gedemütigt, daß die Idee aufblüht, aufgrund der von ihrem Verbündeten geschaffenen überwältigenden Überlegenheit über eine eigene europäische Streitmacht zu verfügen. Welch schwierigen Verbündeten hat Europa, und was für einen in jedem Sinn gefährlichen Verbündeten.

Ich sagte Ihnen bereits, daß es angenehm war, gestern dem russischen Außenminister zuzuhören - ich sprach nicht vom sowjetischen, nicht wahr? Ich sprach vom russischen Außenminister, denn gelegentlich irren wir uns aus alter Gewohnheit. Heutzutage ist er nicht sowjetisch und es ist kein sozialistisches Land, heutzutage würde man nicht Die Internationale singen während eines Festaktes, bei dem man etwas gedenkt, das mit Rußland zu tun hat. Aber Rußland ist ein Land, das von der NATO bedroht wird, die in Richtung seiner Grenzen voranschreitet. Rußland ist ein bedrohtes Land, das der US-Imperialismus immer geschwächter und sogar zersplitterter sehen will und dessen enormer natürlicher Ressourcen er sich bemächtigen will. Das US-Großkapital begnügt sich nicht mit den Investitionen, die es in allen Ländern der ehemaligen UdSSR durchgeführt hat, vor allem im Gebiet des Kaspischen Meers, wo angeblich gewaltige Erdöl- und Gasreserven zu finden sind, und in anderen weiter entfernten Republiken. Es begnügt sich nicht mit seinem ambitionierten Programm der Bemächtigung und Kontrolle all dieser Reichtümer, sondern es will sich auch der natürlichen Ressourcen und der Reichtümer Rußlands bemächtigen, ihm Bedingungen und sogar Tadel auferlegen. Vor einigen Tagen tadelten sie Rußland bei einem Treffen der G7-Staaten wegen eines Finanzskandals.

Dieses Land, das kein sozialistisches Land ist, hat viele gemeinsame Interessen mit anderen Ländern, so auch mit Europa, das weder ruhig noch glücklich ist. Europa gefällt es vor allem nicht, daß ihm von jenseits des Meeres Abenteuer aufgezwungen werden, wie es beim Jugoslawien-Abenteuer der Fall war, und wie es bei anderen Abenteuern, die den Vereinigten Staaten in den Sinn kommen, der Fall sein kann.

Ausgehend von der letzten Erfahrung jenes völkermörderischen Krieges und zusätzlich der Verkündung von neuen strategisch-militärischen Doktrinen und der enthusiastischen Verteidigung von neuen politischen Theorien, die darauf zielen, die UN-Charta wegzufegen und das Recht der Mächtigen zur Intervention an jedem Ort der Erde festzusetzen, fühlt sich die Welt bedroht, und wir wissen das gut.

Es ist sehr gut, wenn wir lesen, daß sich die Beziehungen zwischen Rußland und China immer mehr verbessern, das ist sehr gut. Wir lesen, daß sie gemeinsame Positionen aufgrund des barbarischen Krieges gegen Jugoslawien behaupten, das ist sehr gut. Wir wissen, daß sie gemeinsame Positionen haben bezüglich der angeblichen Rechte, das zu zersplittern, was sie zersplittern wollen, so wie sie Jugoslawien zersplitterten und wie sie erreichten, die UdSSR zu zersplittern.

All dies sind Themen, die viele Länder auf der Welt mit Besorgnis erfüllen.

Und dort in Europa kam es nicht nur zur Zersplitterung der UdSSR, sondern das US-Kapital ist, wie ich bereits sagte, auch dabei, sich der Ökonomien der ehemaligen sozialistischen Länder zu bemächtigen, sie wollen sich allem dort bemächtigen. Ah, wir durchleben neue Zeiten, ein Jahrhundert, das in etwas mehr als einem Jahr beginnt - denn 2 000 ist das letzte Jahr dieses Jahrhunderts, lassen Sie uns das nicht vergessen -, es gibt große Herausforderungen und Aufgaben für die Länder der Dritten Welt, für Länder wie China und Rußland.

Wir wissen, daß Rußland versucht, seine Beziehungen nicht nur zu Europa, sondern auch zur Dritten Welt auszubauen, und wir hören aus dem Mund des russischen Außenministers ähnliche Worte wie die, die heute vom chinesischen Botschafter ausgesprochen wurden, und zwar in bezug auf diese Prinzipien, die ich vorher genannt hatte, und darüber, daß sie versuchen, die Rechte der Völker, die Teil der Vereinten Nationen sind, wegzufegen, und die Prinzipien, die eine zwar relative Garantie, aber in bestimmtem Maß eine Garantie für ihre Souveränität und Unabhängigkeit waren. Ich spreche von relativen Garantien, weil wir wissen, daß die Vereinigten Staaten trotz dieser Rechte in diesen letzten Jahrzehnten in einer Reihe von Ländern interveniert haben, und zwar ohne die Erlaubnis von irgendjemandem - wir wissen das bereits -, aber immer im Konflikt mit dem Völkerrecht. Und jetzt wollen sie das machen, was ihnen beliebt, ohne sich um irgendein Völkerrecht oder irgendein festgelegtes Prinzip zu kümmern.

Man muß eine harte Schlacht in der UNO schlagen, wie diejenige, die unsere Delegation schlug. Es gibt viel, um das wir kämpfen müssen, und es gibt viele gemeinsame Interessen zwischen einigen Ländern, die Mitglied des Sicherheitsrats sind, und dem Rest der Welt.

Aus diesen und jenen Gründen erlangt die Welt Bewußtsein von diesen Problemen, und das ist sichtbar. Es gibt genügend Kraft, um zu widerstehen, und genügend Kraft, um voranzuschreiten, vor allem dann, wenn man unterstützt wird von den Gesetzen der Geschichte und der Wirklichkeit eines Systems und einer Weltwirtschaftsordnung, die untragbar ist, zusammenbrechen wird und sogar fähig ist, von allein zusammenzubrechen, wenn man auch dabei mithelfen muß. Und über diese Mithilfe hinaus muß man auf der Welt das Bewußtsein über diese Realitäten bilden, damit die Völker standhafter dieser Ordnung widerstehen und zu ihrem fortschreitenden Verschwinden beitragen. Auch wenn man die Sicherheit in sich trägt, daß dieses Verschwinden nicht sehr fortschreitend vonstattengehen wird, denn wenn es zu einer katastrophalen Wirtschaftskrise wie derjenigen kommt, die um ein Haar ausgebrochen wäre, oder eine noch größere - denn je länger sie sich herauszieht, desto stärker wird diese Krise sein - dann muß man den Kampfgeist der Völker und ihren Widerstandswillen steigern. Man muß sie das Bewußtsein erlangen lassen, daß sie sich auf neue Konzepte vorbereiten müssen, auf eine neue Konzeption der Welt, eine wahrhaft gerechte neue Weltwirtschaftsordnung. Das ist das, was aus dem Kampf der Völker als Ergebnis herauskommen muß.

Die Völker müssen nicht nur kämpfen, um ihre Wirtschaft und ihre Rechte zu schützen, sondern sie müssen auch kämpfen, um ihr eigenes Überleben zu verteidigen. Die natürliche Umwelt fegen sie weg und zerstören sie. Vor etwa einem Jahr fegte Mitch mit vernichtenden Folgen über Mittelamerika, und jetzt sehen wir die Bilder von kolossalen Überschwemmungen, es handelt sich um einen Umbruch des Weltklimas und das bestreitet schon niemand mehr. Und wen trifft es vor allen anderen? Die ärmsten Länder, die Länder der Dritten Welt.

Aus diesem Grund verspürte ich eine gewisse Notwendigkeit, diese Gedanken hier vorzubringen, denn es erscheinen mir sehr wichtige Fragen, die es wert sind, an einem Tag wie heute berücksichtigt zu werden. Doch ich fühlte außerdem den Wunsch, zu erläutern, daß wir in diesen schwierigen Jahren, als wir plötzlich alle unsere Märkte verloren, den chinesischen Markt hatten. Als es sehr schwierig war, bestimmte Lieferungen zu beziehen, erwarben wir einen Teil der Lieferungen in der Volksrepublik China. Unsere Schiffe kommen und gehen, sie bringen und verschiffen Produkte. Sie haben die pharmazeutische Industrie sehr weit entwickelt, so daß wir viele Rohstoffe für unsere pharmazeutische Industrie, die manchmal schwierig zu beschaffen sind, in China erwerben, und zwar zu guten Preisen. Sie sind kooperativ mit unserem Land gewesen und haben den Austausch, die Wirtschaftsbeziehungen und ebenfalls die politischen Beziehungen mit Kuba in den Jahren der Spezialperiode weiterentwickelt. Fast alle ihre wichtigsten Führungspersönlichkeiten haben unser Land besucht.

Wir hatten die Ehre, hier den Präsidenten Jiang Zemin zu empfangen, und wir irrten uns seit unserem ersten persönlichen Kontakt nicht bezüglich unserer richtigen Einschätzung seiner Intelligenz, seiner politischen und menschlichen Eigenschaften und seiner Fähigkeit als verantwortungsvolle Führungsfigur und als Staatsmann, der über feste Prinzipien verfügt.

Da wir jeden Tag die Nachrichten verfolgen, sehen wir in China außerdem das andere Land, über das sich die westliche Propaganda ausläßt. Es vergeht kein Tag, an dem nicht irgendwelche internationalen Nachrichten erscheinen, die interne Angelegenheiten und Fragen Chinas zum Thema haben. Wenn in China jemand verhaftet wird, weil er ein Gesetz verletzt hat, folgt das Geschrei auf dem Fuß; wenn in China ein Grüppchen verhaftet wird, weil es der Einheit und der Stabilität des Landes Schaden zufügt oder eine Politik verfolgt, die die Interessen dieses großen Volkes verrät, dann löst das einen Skandal aus. Die Propaganda konzentriert sich heutzutage hauptsächlich auf Kuba, aber es gibt auch eine heftige Propaganda gegen China, eine spaltende Propaganda, die alle möglichen Mittel anwendet, wobei der Imperialismus neue Radiosender einrichtet, damit sie den 1,25 Milliarden Chinesen die westlichen Ideen, die westlichen Konsumgewohnheiten und die westlichen oder hauptsächlich US-amerikanischen Verrücktheiten übermitteln. Es handelt sich um ein Land, das unter Ausnutzung aller Möglichkeiten ideologisch bekämpft wird.

Im Bewußtsein unserer Kräfte, der potentiellen Kräfte der Welt, der potentiellen Verbündeten der Dritten Welt und der Möglichkeiten unserer Völker fühlte ich deshalb beim Gedanken an all das und beim Anhören der Worte des Botschafters wirklich eine tiefe Befriedigung und ich freute mich sehr, zu diesem Festakt zu kommen - auch wenn ich absolut keine Ahnung hatte, worüber ich reden sollte; ich habe schon ein wenig länger als versprochen geredet - und hier aus dem Mund des Botschafters diesen Satz zu hören, der so viel Beifall verdiente, und das außerdem in Spanisch - denn er sprach zu uns mit großer Präzision in Spanisch; er kennt Kuba und lebte und arbeitete seit Jahren in Kuba, deshalb spricht er die spanische Sprache mit einer solchen Klarheit wie jeder von uns -, als er "Sozialismus oder Tod" sagte und als er daraufhin "Wir werden siegen" hinzufügte. Damit sprach er etwas aus, von dem wir absolut überzeugt sind.

Und deshalb bewegte es mich sehr, hier in diesem Festakt Die Internationale zu hören, gestützt von dem, was hier gesagt wurde, auf der Grundlage all der exakten Daten, die hier bekanntgegeben wurden, um zu beweisen, daß nur der Sozialismus die Probleme der Welt lösen kann. Nur der Sozialismus konnte 1,25 Milliarden Chinesen ernähren, praktisch jedem eine Wohnung geben und jeder chinesischen Familie einen Fernseher, viele andere Haushaltsutensilien und besonders die essentiellen Mittel zum Leben zur Verfügung stellen. Das bedeutet, daß in diesem Land mit 7 % der weltweiten landwirtschaftlichen Flächen etwa
22 % der Weltbevölkerung ernährt wird.

Ein weiteres herausragendes Beispiel ist die Tatsache, daß es ein Land ist, das unter der Herrschaft der Feudalherren und des Kapitalismus, die stets mit den kolonialen und beherrschenden Mächten verbunden waren, und als es nur 400 oder 500 Millionen Einwohner hatte, sehr viele Hungersnöte erlitt, und das heute mit einer dreimal größeren Bevölkerungszahl für immer den Hunger beseitigt hat. Und genau an dieser Stelle erläuterte der Botschafter, daß sie fähig waren, 40 % der weltweit hergestellten Eier und 490 Millionen Tonnen Getreide zu produzieren und viele andere ähnliche Kennziffern zu erreichen.

Und wir könnten sagen, daß China erst beginnt, denn diese 7,8 % wurden mit großen Anstrengungen erreicht. Wie konnten sie das erreichen, wo doch das Exporttempo beträchtlich nachließ? Nun, wegen der Mittel, die sie angehäuft haben. Beträchliche Devisenreserven erlaubten ihnen nicht nur, diesen Beitrag zu leisten, von dem ich in bezug auf den Yuan sprach, sondern auch ein Wachstumstempo aufrechtzuerhalten, das, wenn es auch nicht so stark von den Exporten abhing, so doch von der Steigerung des internen Konsums und der Beibehaltung des Entwicklungsrhythmus, um Arbeitsplätze zu schaffen, denn bei allen seinen Aufgaben der Umstrukturierung hat China logischerweise die herausragende Notwendigkeit, Arbeitsplätze zu schaffen. Sie sind auch mit der Bewegung der Menschen vom Land in die Stadt konfrontiert, und zwar in dem Maße, in dem diese die Produktivität anhebt und einen Arbeitskräfteüberschuß hervorruft.

Sie konnten den Wert des Yuan beibehalten. Es wäre sehr viel leichter gewesen, den Yuan abzuwerten, aber sie werteten ihn nicht ab, sondern behielten ihre Reserven bei, leiteten die Wirtschaft mit Weisheit und erreichten unter diesen Bedingungen ein Wachstum von 7,8 %. Sie ertrugen nicht nur die südostasiatische Krise in denjenigen Ländern, in denen die Kapitalbesitzer ihr Geld mitnahmen und in denen die Herren der Weltfinanzen die Reserven dieser Länder bis zum letzten Dollar aussaugten, wobei die idealen Bedingungen geschaffen wurden, damit die großen multinationalen US-Unternehmen in jedem dieser Länder Firmen und Fabriken zu sehr niedrigen Preisen kaufen konnten. Die Chinesen hielten nicht nur der Krise stand, sondern sie werteten auch den Yuan nicht ab, womit sie der Welt einen außerordentlichen Dienst erwiesen, und trotzdem wuchs ihre Wirtschaft um 7,8 %. Sie sind fähig, die Schlacht weiterzuführen, trotz der Schwierigkeiten, die heutzutage die Welt heimsuchen.

All das, was von dieser Geschichte gesagt wurde, ist die Frucht von etwas, was sich Sozialismus nennt, die Frucht einer Doktrin, die entstand, um die Welt zu bewegen, nämlich die marxistische Doktrin, der wissenschaftliche Sozialismus, die Revolution der Armen, wegen der Armen und für die Armen, die auch unsere unglaublich heldenhafte Großtat, 40 Jahre Blockade und fast 10 Jahre Spezialperiode auszuhalten, möglich gemacht hat.

Deswegen wiederhole ich hier die Parole, mit der der Botschafter seine Rede beendete:

Sozialismus oder Tod!

Wir werden siegen!

(Ovation)

Sonntag, 19. September 1999

Grußadresse an die Teilnehmer der Ministertagung der Gruppe der 77

Sehr verehrte Teilnehmer der Ministertagung

der Gruppe der 77!


Gestatten Sie mir, Ihnen meinen brüderlichen Gruß zu übermitteln. Es war mein größter Wunsch, persönlich an dieser Tagung teilzunehmen, doch es war nicht möglich.

Mit meinen Worten möchte ich Ihnen in erster Linie zum Ausdruck bringen, welche Ehre, doch auch welche Verantwortlichkeit es für Kuba bedeutet, in Havanna das Gipfeltreffen der Länder des Südens vom 10. bis 14. April nächsten Jahres durchzuführen.

Dieses wichtige Ereignis auf hoher Ebene, einberufen durch unser Land auf Beschluß der Ministertagung der Gruppe der 77 und Chinas, die vor nur einem Jahr im September 1998 stattfand, wird vor dem Hintergrund einer historischen Situation ihren Verlauf nehmen, die für die Welt und besonders für ihren am meisten benachteiligten Teil, den die hier vertretenen Länder ausmachen, von lebenswichtiger Bedeutung ist.

Die Gruppe der 77 muß gemeinsam erwägen, wie die neuen Realitäten anzugehen sind, um Zugang zur Entwicklung zu haben, die Armut zu beseitigen, die Kultur zu verteidigen und den Platz einzunehmen, der ihr bei der Findung von globalen Entscheidungen zukommt, die alle betreffen.

Seit ihrer Gründung im Jahr 1963 bekleidet diese Gruppe eine relevante Funktion als Vertreter des Südens und Verteidiger seiner Interessen bei zahlreichen Verhandlungen. Wir sind ein Komplex von Ländern, gekennzeichnet durch Unterschiedlichkeit in der Geographie, der Kultur und dem Entwicklungsstand.

Diese Verschiedenartigkeit darf nicht Schwäche sein, sondern in ihr muß unsere Stärke liegen.

Durch ruhiges Erwägen und ehrlichen Gedankenaustausch werden wir Wege finden, die legitimen Interessen aller Mitgliedsländer, ob oberflächenmäßig groß oder klein, dieser oder jener Religion anhängend, diese oder jene Kultur besitzend, seien es kontinentale oder Inselstaaten, mit einzugliedern.

Über die Verschiedenartigkeit hinaus teilen wir als uns einenden und zusammenhaltenden Aspekt die Eigenschaft, daß wir eine Gruppe von Ländern sind, denen allen nur in sehr geringem Umfang - in vielen Fällen faktisch überhaupt nicht - die Vorteile der gegenwärtigen Weltordnung mit ihren brillanten Technologien, der Expansion der Märkte und den Finanzblasen zugute kommen.

Wir stehen an der Schwelle eines neuen Jahrtausends, vor uns die enormen Herausforderungen einer unipolaren Weltordnung und eines ungestüm voranschreitenden Globalisierungsprozesses, der einer Welt mit einem nie dagewesenen technologischen Potential, doch auch mit noch nie dagewesenen Ungleichheiten und Exkludierungen Platz macht.

Die Globalisierung ist der historische Prozeß, der das Szenarium der Welt am Ende unseres Jahrtausends kennzeichnet.

Es ist eine unumkehrbare Realität, charakterisiert durch wachsende wechselseitige Beziehungen der Länder, Volkswirtschaften und Völker infolge der großen wissenschaftlich-technischen Fortschritte, die die Entfernungen gekürzt haben und die Kommunikationen und Informationsübermittlung zwischen Ländern irgendwo auf unserem Planeten Wirklichkeit werden ließen.

In der Globalisierung mit ihren beeindruckenden technologischen Errungenschaften liegt ein enormes Potential für die Entwicklung, die Beseitigung der Armut und die Förderung des Wohlstandes bei sozialer Gleichheit für die gesamte Menschheit. Nie zuvor standen so ausgezeichnete technologische Mittel zur Verfügung wie die, die es heute gibt.

Doch die Welt ist weit davon entfernt, diese Möglichkeiten, die die Globalisierung bietet, verwirklicht zu sehen. Sie verläuft heute unter dem Taktstock der neoliberalen Politik, die einen nichtregulierten Markt und eine schrankenlose Privatisierung aufdrängt.

Weit von der Verbreitung der Entwicklung in einer Welt entfernt, in der es immer mehr Verflechtungen gibt und die daher immer stärker einer gemeinsamen Nutzung des Fortschritts bedarf, hat die neoliberale Globalisierung die Ungleichheiten vertieft und den Mangel an sozialer Gerechtigkeit und die erbittertsten Gegensätze zwischen Überfluß und extremer Armut außerordentlich vergrößert.

Im Jahr 1960 lag das Verhältnis des Einkommensunterschiedes zwischen den in den Industrieländern lebenden reichsten 20 Prozent der Weltbevölkerung und den in der Dritten Welt lebenden ärmsten 20 Prozent bei 30 : 1; und 1997 betrug dieses Verhältnis 74 : 1.

Der Kult des nichtregulierten Marktes hatte eine progressive Konvergenz in der Entwicklung versprochen, doch die letzten beiden Jahrzehnte haben die stärkste Konzentration der Einkommen und aller Art Ressourcen sowie eine Vertiefung der Kluft zwischen Industrie- und Entwicklungsländern gebracht.

Die OECD-Länder konzentrieren mit 19 Prozent der Bevölkerung unseres Planeten 71 Prozent des Welthandels von Waren und Leistungen, 58 Prozent der direkten Auslandsinvestitionen und 91 Prozent aller Internet-Nutzer.

Es ist offensichtlich, daß unter den Voraussetzungen des Kultus an die Kurrenzfähigkeit des Marktes und der Herabsetzung der Rolle der Regierungen auf passive Empfänger der in den Zentren der Hochfinanz getroffenen Entscheidung die Möglichkeiten der Globalisierung sehr ungleich verteilt sind.

Soll die Globalisierung ihr enormes Potential an Nutzen für die Menschheit verwirklichen, so muß sie neben einer neuen, gerechten und nachhaltigen Weltordnung einhergehen, in der die Länder der Dritten Welt an der Findung von globalen Entscheidungen beteiligt sind; wo es zu einer tiefgründigen Umwälzung des internationalen Währungssystems kommt, das heute von einer dazu privilegierten Landeswährung beherrscht wird; wo die Entwicklung integral angegangen wird und keine Trennung von Handel, Investition und Finanzen in eigenständige Bereiche zum Zwecke der einfacheren Machtausübung durch die Industrieländer erfolgt. Es erfordert außerdem die Reduzierung des wachsenden Abstandes zwischen der Gruppe der reichsten Länder und der großen Mehrheit der armen Länder sowie die Einstellung der protektionistischen Praktiken, die im offenen Widerspruch zu den so häufig wiederholten Liberalisierungsphrasen stehen.

Soll die Globalisierung ihr Fortschritts- und Entwicklungspotential nicht nur für eine privilegierte Minderheit, sondern für alle entfalten, dann muß es zwischen den Industrieländern und der Dritten Welt zu einem Dialog kommen, der umfassend, verantwortungsvoll und mit vollem Verständnis der von ihr selbst geforderten gemeinsamen Verantwortlichkeiten sowie der Entwicklungsunterschiede zu führen ist, die die Forderung nach Gleichheit der Verpflichtungen zwischen zutiefst ungleichen Seiten ungerecht und absurd erscheinen lassen.

Dieser Dialog muß vor allem von Seiten geführt werden, die gleiche Rechte haben; er darf nicht zu einem Monolog werden, bei dem der Dritten Welt die Rolle des Zuhörers einer Rede darüber zukommt, was sie zu tun hat, um ein gutes Verhalten bescheinigt zu bekommen.

Es sind viele Punkte, die in die Agenda dieses Dialogs aufgenommen werden müssen. Neue Konflikte und immer größere Ungleichheiten verlangen Verhandlungen, bei denen unsere Fähigkeit des abgestimmten Auftretens als Gruppe der 77 und eine kluge, flexible und prinzipientreue Verhandlungstaktik unabdingbare Voraussetzung für die Wiederaufnahme des Nord-Süd-Dialogs auf der Höhe der immensen globalen Herausforderungen sind, die vor der Menschheit stehen, insbesondere der Herausforderung einer notwendigen Globalisierung einer umweltmäßig nachhaltigen und sozial gerechten Entwicklung.

Für unsere Länder ist es von erstrangiger Bedeutung, diese Agenda auszuarbeiten, unsere Prioritäten zu setzen und unsere Verhandlungspositionen abzustimmen. Themen wie die Außenverschuldung der Dritten Welt und die schwere Last des Schuldendienstes, der viele unserer Länder abschnürt; das internationale Währungs- und Finanzsystem, das von häufigen Krisen erschüttert wird, die die Weltwirtschaft destabilisieren und die armen Länder mit besonderer Härte treffen; der multilaterale Handel, beherrscht von Regeln extremer Liberalisierung, die von den Industrieländern auferlegt und von ihnen selbst tagtäglich durch den selektiven Protektionismus verletzt werden; die nachteiligen Trends der Grundstoffpreise auf einem Weltmarkt, der immer stärker von den großen transnationalen Konzernen beherrscht wird, deren Jahresumsatz das Bruttoinlandsprodukt vieler unserer Länder übersteigt; das sind einige der Punkte, die von uns geprüft werden und über die wir uns einigen müssen. Die Ungleichheiten und Gefahren, die die Regeln über den Handel von Dienstleistungen und Urheberrechten in sich bergen, sowie die Kürzungen der staatlichen Entwicklungshilfe bis auf ein Niveau, das sich immer weiter von den eingegangenen Verpflichtungen der Industrieländer entfernt, sind ebenfalls bedeutsame zu prüfende Aspekte.

Der Süden braucht den Süden. Die Zusammenarbeit unserer Länder ist eins der Themen, zu denen das Gipfeltreffen in Havanna einen verstärkten Beitrag über konkrete Aktionen und erneuernde Mechanismen zu leisten hat. Die Förderung der Süd-Süd-Kooperation ist unser Weg der gegenseitigen Übermittlung unserer Erfahrungen und Fähigkeiten.

Ein besonders relevantes Thema unserer Agenda sind die Aspekte über den Wissensstand und die Technologie, denn in ihrem Rahmen behandeln wir die Fragen, die in beachtlichem Maße über die Zukunft unserer Länder entscheiden.

Es drängt, die Notlage anzugehen, in der sich unsere Ländergruppe auf dem Szenarium der globalen Netze der Information, von Internet und sämtlichen modernen Medien der Informations- und Bildübertragung befindet. Diese prächtige Welt des Austauschs von Kenntnissen und Bildern bleibt unseren Ländern weiterhin fremd und vorenthalten.

Für den Zugang zu Internet muß man zumindest lesen können, eine Telephonleitung und einen Computer besitzen und die englische Sprache beherrschen, in der 80 Prozent der Botschaften des Netzes erscheinen. In vielen Ländern der Gruppe der 77 ist es schwer, diese Anforderungen auch nur einzeln zu erfüllen; und noch schwerer ist es, ihnen insgesamt zu entsprechen.

Es ist eine Realität, daß in den Vereinigten Staaten und Kanada mit weniger als fünf Prozent der Weltbevölkerung mehr als fünfzig Prozent der Internetnutzer leben und daß es in den Vereinigten Staaten mehr Computer gibt als in der restlichen Welt.

Der Grund dieser extremen Ungleichheit liegt in den fehlenden Möglichkeiten für die Entwicklungsforschung. 84 Prozent der weltweiten Ausgaben für Forschung und Entwicklung entfallen auf nur zehn Länder.

Die neuen Technologien der Kommunikation haben die Welt in Teilnehmer und Nichtteilnehmer der globalen Netze gespalten.

Der Anschluß an das Wissen und die Beteiligung an einer echten Globalisierung der Information, also nicht Ausschluß, sondern Teilnahme, die mit der verbreiteten Praxis der Abwerbung Schluß macht, ist eine unabdingbare strategische Notwendigkeit für das Überleben unserer kulturellen Identität im kommenden Jahrhundert.

Für Kuba ist es von großer Bedeutung, daß wir 133 Länder der Gruppe der 77 unsere Standpunkte zu diesen entscheidenden Fragen diskutieren und gemeinsame Strategien entwickeln mit dem Ziel der Verteidigung unserer Interessen in einer unipolaren Welt, in der die Absichten einiger weniger immer offensichtlicher werden, sich über die in der Charta der Vereinten Nationen verankerten Prinzipien des Völkerrechts hinwegzusetzen, nach denen sich länger als ein halbes Jahrhundert die Beziehungen zwischen allen Ländern geregelt haben. Doch in Gefahr sind nicht nur die Prinzipien des Völkerrechts, sondern sogar die bloße Existenz der mittleren und kleinen Länder. Man verlangt sogar von ihnen, aufzuhören zu atmen, damit die transnationalen Konzernriesen und einige supermächtige Staaten unter der Ägide eines von ihnen alles entscheiden. Eine solche Philosophie ist nicht nur inakzeptabel, sondern eher absolut unhaltbar.

Das Gipfeltreffen der Länder des Südens in Havanna wird den geeigneten Rahmen bilden, um unsere Positionen für die Generalversammlung und den Gipfel des Jahrtausends abzustimmen, eine Welt mit sozialer Gerechtigkeit und realen Entwicklungsmöglichkeiten für alle Völker unseres Planeten verfechtend.

Kuba stellt den Ländern der Gruppe der 77 seine in der praktischen Kooperation gesammelten Erfahrungen zur Verfügung. Allein auf dem Gebiet des Gesundheitswesens haben mehr als 25 000 kubanische Ärzte in Dutzenden von Ländern der Dritten Welt ihren Dienst getan. Gegenwärtig sind auf unentgeltlicher Basis mehr als 1200 Ärzte und Spezialisten des Gesundheitswesens in Mittelamerika, Haiti und dem nördlichen Schwarzafrika tätig und noch mehrere Tausend sind einsatzbereit für diese Mission; und nicht, um in Haupt- oder Großstädten zu arbeiten, sondern in Dörfern, Siedlungen und abgelegenen Orten, wo sie am meisten gebraucht werden. Millionen Menschen könnten mit Hilfe dieser bescheidenen, doch aufrichtig solidarischen Bemühung gerettet werden, wenn die erforderlichen menschlichen Ressourcen dafür bereitgestellt werden. In Havanna wird bereits an der Lateinamerikanischen Hochschule für Medizin gelehrt. Immatrikuliert sind 2000 Studenten aus 18 Ländern der Region. Diese Anzahl wird sich in wenigen Monaten auf 3000 erhöht haben; und in noch drei Jahren werden es 6000 Medizinstudenten aus lateinamerikanischen und den Karibikstaaten sein. In Afrika kooperieren wir bei der Schaffung und Entwicklung von medizinischen Ausbildungseinrichtungen. Wir arbeiten beschleunigt an der Entwicklung eines AIDS-Impfstoffes und anderen Seren gegen tödliche Tropenkrankheiten. Mit unaufhaltsamer Kraft bricht sich ein neues Konzept über die Rolle des Arztes in der menschlichen Gesellschaft Bahn. Ein ähnlicher Plan zur Ankurbelung der Entwicklung von Körperkultur und Sport in der Dritten Welt wurde bereits mit der Entsendung von Trainern und der Schaffung einer Hochschuleinrichtung für die Ausbildung von Sportlehrern eingeleitet. Die Zusammenarbeit bei der Heranbildung wissenschaftlichen und technischen Personals erstreckt sich auf andere Zweige. Wir stehen kurz vor dem Abschluß und der Testung eines Systems, bei dem über Rundfunksendungen Schreiben und Lesen gelehrt wird. Dadurch könnten mit einer geringen Anzahl Lehrer und ganz wenigen Materialkosten Hunderte Millionen Menschen in der Dritten Welt alphabetisiert werden, die in abgelegenen Gebieten leben, für die sonst Millionen Lehrer und zehnstellige Dollarbeträge jährlich benötigt würden – etwas Unerreichbares.

Ich bitte Sie um Entschuldigung, wenn ich diese Fakten erwähne. Ich will damit nur zum Ausdruck bringen, wie unendlich weit der Bereich unserer Möglichkeiten ist, wieviel mit ein wenig Solidaritätsgeist und internationaler Kooperation erreicht werden kann. Kuba ist lediglich ein kleines Land, das vierzig Jahre lang einen unaufhörlichen, rigorosen und unerbittlichen Wirtschaftskrieg zu ertragen hatte. Was könnten wir bei enger Zusammenarbeit unserer aller Länder nicht erreichen? Es würde nicht nur die Rettung der gegenwärtigen Zivilisation bedeuten, sondern auch das Überleben der Gattung Mensch verbürgen.

Nur vereint werden wir in der Lage sein, uns Gehör zu verschaffen, für unsere Interessen zu kämpfen, unser Recht auf Leben, Entwicklung und Kultur zu verteidigen.

Wir hoffen, daß Sie Ihren Staats- und Regierungschefs neben meiner vorzüglichen Hochachtung diese Betrachtungen übermitteln sowie den Wunsch Kubas, sie im April nächsten Jahres in Havanna willkommen zu heißen, wie wir bereits versprochen haben, als diese Beratung angesetzt wurde.

Mit brüderlichem Gruß

Fidel Castro Ruz

Freitag, 3. September 1999

Schlußfolgerungen in der Sondersendung über die nationale und internationale Bewegung des Sports

Schlußfolgerungen des Präsidenten der Republik Kuba, Fidel Castro Ruz, in der Sondersendung über die nationale und internationale Bewegung des Sports am 3. September 1999.

Als ich dem Leiter unserer Sportdelegation in Winnipeg und dem Präsidenten des kubanischen Olympischen Komitees die Anweisungen gab, in die Ehre und das Wort von einer der größten Figuren des weltweiten Sports Vertrauen zu setzen, verteidigte ich nicht eine Goldmedaille oder die Großtat, den ersten Rang in der Leichtathletik erreicht und dabei die Vereinigten Staaten geschlagen zu haben, ein Sieg, der uns schändlicherweise entrissen wurde, indem man Sotomayor seine Medaille abnahm. Dabei versuchte ich, die Moral eines Menschen zu retten.

Ein olympischer Sportler ist kein vulgäres Instrument des internationalen Prestiges, ein Objekt, das man auf dem Markt kauft und verkauft, eine Ware, die man gebraucht und danach auf den Müll wirft. Er ist vor allem ein menschliches Wesen, der Vater und Mutter, Ehefrau und Kind, Geschwister, Freunde und Bewunderer hat und der der Stolz aller wegen der Anerkennung ist, die er mit seiner Anstrengung und seinen überragenden Verdiensten erworben hat. Er besitzt eine Ehre, vor allem eine Ehre. Wer noch nie für Geld einen Wettbewerb bestritten hat, bestritt diesen und siegte nur für die Ehre. Die Ehre ist mehr wert als das Leben, das Leben ohne Ehre hat keinen Sinn.

Es gibt ein Verbrechen, das noch verurteilungswürdiger ist als das physische Verbrechen. Das moralische Verbrechen, Sotomayor als Drogenabhängigen, leidenschaftlichen Konsumenten von Kokain zu beschuldigen, eines Produktes, das heutzutage die Welt terrorisiert, bedeutet, das Leben eines Mannes für immer zu beflecken, und zwar ohne wirklichen Beweis, ohne irgendeine Garantie, ohne die geringste Möglichkeit, sich zu verteidigen und ohne eine mögliche Berufung. So werden innerhalb von 48 Stunden 21 Jahre mit totaler und uneigennütziger Hingabe zum Amateursport, den er im Alter von 10 Jahren begann, zerstört.

Man kann nicht auf willkürliche und brutale Weise ignorieren, daß er mehr als 100 programmierten und überraschenden Dopingproben unterzogen wurde und daß er mehr als dreihundert Mal die Höhe übersprang, mit deren Überwindung im ersten Versuch er an jenem Tag seine Medaille errang. Sogar das mittelmäßigste Gericht und der mittelmäßigste der Richter, die auf der Welt das Strafrecht anwenden, hätten diese Geschichte und das Vorleben der Person berücksichtigt, über die sie zu richten haben.

Wenn die weltweite Bewegung des Sports dieses Minimum an Garantien für die Sportler, die an internationalen Wettkämpfen teilnehmen, nicht anbieten kann, besteht die offenkundige Notwendigkeit, solche Verfahrensweisen auszumerzen und sie durch andere zu ersetzen, die menschlicher, vernünftiger und gerechter sind. Die Amateursportler, die nicht für Geld an Wettkämpfen teilnehmen, können nicht weiterhin unter einem solchen Terrorregime leben.

Alle schauen darauf, was mit Sotomayor passiert, gegen den gerade ein abscheuliches Verbrechen verübt wird, ein abstoßender und schändlicher moralischer Mord, wie vor etwas mehr als einem Jahrhundert im berühmten Dreyfus-Fall, jenem Offizier des französischen Generalstabs, der aufgrund von Vorurteilen und Rassenhass ungerechterweise als Spion angeklagt, hart bestraft und nach Französisch-Guayana geschickt wurde, wohin man die schlimmsten Kriminellen sandte, bis keine Alternative mehr blieb, als ihn zu rehabilitieren. Wenn man die infame, willkürliche und ungerechte Sanktion gegen diesen ruhmreichen, bescheidenen und uneigennützigen Sportler nicht korrigiert, wird Javier Sotomayor zum Dreyfus des zuendegehenden Jahrhunderts.

Als wir ausgehend von dieser Überzeugung nicht zögerten, seine Unschuld zu bekunden, waren wir weit davon entfernt, uns vorzustellen, daß zwei Tage danach mit einer Welle von ungerechten Sanktionen versucht würde, das kubanische Gewichtheberteam aus der olympischen Bewegung wegzufegen. Die gegen drei kubanische Gewichtheber erhobene Beschuldigung des Dopings mit Nandrolon ermöglichte uns, den in Winnipeg gegen die kubanischen Sportler eingefädelten Komplott zu entdecken und total zu entlarven.

Unsere Beweise sind unanfechtbar. All das, was hier vorgebracht wurde, von den soliden wissenschaftlichen, theoretischen und praktischen Argumenten des Direktors des Instituts für Sportmedizin, denen des brillianten und talentierten Arztes der Gewichtheber-Nationalmannschaft und denjenigen des erfahrenen Beauftragten dieser Disziplin - die aufgelistet und in allen Details und mit der entsprechenden Dokumentation so unumstößliche Beweise darstellen, daß die Ausführungen von jedem von ihnen genügen würden, um ein unparteiisches Gericht zu überzeugen -, bis zu dem überwältigenden und unumstößlichen Resultat der drei angesehenen und mit der olympischen Bewegung in Verbindung stehenden Laboratorien, zwei von ihnen in den vergangenen acht Jahren verantwortlich für die Analyse der Proben bei einer Olympiade und einer Leichtathletik-Weltmeisterschaft, beweist die plumpen Ungerechtigkeiten, die gegen die kubanischen Sportler verübt wurden. Das was Tage später bei der Boxweltmeisterschaft geschah, brachte das Faß zum Überlaufen.

Im Namen des kubanischen Volkes beantragen wir beim Präsidenten des Internationalen Olympischen Komitees, Juan Antonio Samaranch, der die höchste Autorität in der weltweiten Sportbewegung darstellt und dem wir vertrauen, daß er eine Untersuchungskommission bezüglich der Ereignisse in Winnipeg und Houston einsetzt.

Wir haben bereits von der Internationalen Amateurboxvereinigung die Überprüfung der Urteile gefordert, durch die fünf kubanischen Sportlern die Goldmedaillen geraubt wurden, und zwar genauso, wie am gleichen Abend angesichts der skandalösen Entscheidung von korrupten Punktrichtern im Kampf von Juan Hernández Sierra gegen den russischen Boxer Timor Gaidalov verfahren wurde.

Wir fordern, daß die auf eine saubere Art und Weise errungenen und durch kriminelle und zynische Verfahrensweisen entrissenen Goldmedaillen des Hochsprungweltrekordlers und sechsfachen Weltmeisters Javier Sotomayor und der Gewichtheber William Vargas in der 62 kg-Kategorie und Rolando Delgado in der 69 kg-Kategorie sowie die Silbermedaille von Modesto Sánchez in der Kategorie von über 105 kg zurückgegeben werden. Und was noch viel wichtiger ist: Man muß den gekränkten Sportlern ihre Ehre zurückgeben. Wir werden nicht ruhen, bis wir es erreicht haben. Wir werden sogar, wenn nötig, die Gerichte anrufen, um die strafrechtliche Verantwortung für das Delikt der Diffamierung und Verleumdung unserer Sportler einzufordern.

Wir werden diese bei jeder Klage auf Schadensersatz unterstützen, wenn sie entscheiden, diese Klage wegen Personenschaden und moralischem Schaden anzustrengen.

Mehr als bewiesen sind die Ungerechtigkeiten, unter denen sie leiden, und die Ungleichheiten, welche die Entwicklung des Sports und die Triumpfe derer verhindern, die ein Anrecht darauf haben, nämlich die Länder der Dritten Welt.

Wir werden mit aller Dringlichkeit ein modernes und effizientes Antidoping-Labor schaffen, das mit den Staaten unserer Region, die dies benötigen, zusammenarbeitet, und genauso wie wir es im Bereich der Medizin tun, in dem wir auch bereits schon eine Macht sind, tragen wir mit der Kooperation der kubanischen Fachkräfte nicht nur zur Entwicklung des Sports bei, sondern überlegen uns ernsthaft die Errichtung einer lateinamerikanischen und karibischen Fakultät für Körperkultur und Sport, um für diese Länder ihre eigenen Fachkräfte auszubilden, die diese noble und gesunde Aktivität dann in ihren Herkunftsländern ausüben.

Eines Tages werden wir, die Indios mit Schlips und Kragen, beweisen, was wir sind und was wir zustandebringen können.

Vielen Dank.

Donnerstag, 2. September 1999

Ansprache in der Sondersendung über die nationale und internationale Bewegung des Sports in den Studios des Kubanischen Fernsehens

Ansprache des Präsidenten des Staatsrates der Republik Kuba, Fidel Castro Ruz, in der Sondersendung über die nationale und internationale Bewegung des Sports in den Studios des Kubanischen Fernsehens, am 2. September 1999, "Jahr des 40. Jahrestages des Sieges der Revolution".

Werte Fernsehzuschauer;

Sehr geehrte Gäste:

Am 9. August, nach Beendigung der Panamerikanischen Spiele in Winnipeg, verpflichtete sich die kubanische Regierung über das Nationale Institut für Sport, Körperkultur und Erholung (INDER), eine gründliche Untersuchung des Vorwurfs des Dopingmißbrauchs gegen zwei Sportler der Gewichtheber-Nationalmannschaft einzuleiten, die bestraft wurden und denen man ihre errungenen Goldmedaillen abgenommen hatte. Diese Untersuchung hatte das Ziel, herauszufinden, ob es sich um eine weitere Schurkerei gegen unser Land handelte oder ob sich in der Tat ein Anabolikum im Organismus der erwähnten Sportler befand, wobei dann der Grund dafür und die mögliche Verantwortlichkeit des Trainers, des Arztes oder der Sportler selbst untersucht werden mußte. Gemäß unserer seit jeher verfogten unerschütterlichen Verhaltenslinie würden die Ergebnisse der Untersuchung, die wir bereits im Falle der Gewichtheber, denen die Medaille abgenommen wurde, eingeleitet hatten, der Öffentlichkeit im In- und Ausland bekanntgegeben.

Nach intensiven Anstrengungen wurde diese Untersuchung beendet und wir schreiten unverzüglich zur Erfüllung des abgegebenen Versprechens.

Da die Beschuldigungen und Sanktionen gegen unsere Sportler eng mit einer kolossalen Kampagne gegen sie und gegen den revolutionären Sport verbunden waren und als Grundlage für diese dienten, spreche ich mit aller Deutlichkeit und Offenheit nicht nur von den Mitgliedern unserer Gewichtheber-Nationalmannschaft, sondern auch von Javier Sotomayor, Weltrekordler, Olympiasieger und mehrfacher Weltmeister, Vorbild unseres Sports, und die Geschehnisse bezüglich dieser Sportler bei den panamerikanischen Wettkämpfen in Winnipeg.

Alles begann auf die folgende Weise:

Am 2. August 1999, zehn Tage nach Beginn der Panamerikanischen Spiele, um 17.25 Uhr, wurde ich in meinem Büro darüber informiert, daß Christian Jiménez, Vizepräsident des INDER, die im Folgenden wörtlich aufgeführte Nachricht übersandte:

"Humberto (Präsident des INDER und Chef der kubanischen Delegation in Winnipeg) rief an, damit ich dem Commandante eine dringende Nachricht weiterleite.

Alles scheint darauf hinzuweisen, daß sie Javier Sotomayor als Teil einer Machenschaft mit dem Dopingproblem in Verbindung bringen wollen. Bisher wurde es noch nicht veröffentlicht.

Aus diesem Grund fliegen der Direktor des Instituts für Sportmedizin (Mario Granda), Dr. Alvarez Cambras und der Arzt des Leichtathletikteams (Dr. Quintero) morgen nach Montreal, wo sich das Labor befindet, in dem diese Analysen vorgenommen werden.

Humberto sagt, daß er vorschlägt, daß wir im Falle des Beweises, daß es sich um eine weitere Machenschaft handelt, diese Information morgen in Form einer Anklage bekanntgeben.

Nach Meinung von Humberto ist dies die größte und verzweifelste Machenschaft, die jemals gegen uns unternommen wurde.

Auf jeden Fall meint er, daß man die morgige Kontaktaufnahme abwarten muß, um die Ergebnisse zu kennen und sie danach zu veröffentlichen."

Gemäß allen Normen wird eine Information dieser Art nicht offiziell bekanntgegeben, bis die Urinproben untersucht worden sind, die in zwei Flaschen enthalten sind, die mit A und B und dem Code des Sportlers gekennzeichnet sind. Im Fall von Sotomayor verbreitete sich die Nachricht, die offensichtlich aus dem Labor selbst herausgesickert war, bereits zu dem Zeitpunkt wie Pulver in alle Richtungen, als gerade die erste Probe analysiert worden war.

Am 3. August gab eine Nachricht der Agentur AFP aus Winnipeg folgendes bekannt:

"Der Präsident der Panamerikanischen Sportorganisation ODEPA, Marío Vázquez Raña, weigerte sich am Dienstag zu bestätigen, ob der kubanische Weltrekordler Javier Sotomayor in einer ersten Dopingkontrolle positiv getestet wurde, doch er gab die Existenz eines anhängigen Falls bekannt und bat 'unsere kubanischen Freunde' um 'Geduld'.

Die Bombe exoplodierte in der selben Pressekonferenz, in der Vázquez Raña die Aberkennung der Goldmedaille der Sportlerin aus der Dominikanischen Republik, Juana Arrendel, pamamerikanische Meisterin im Hochsprung der Frauen, bekanntgab.

Als er direkt befragt wurde, ob 'Javier Sotomayor positiv getestet wurde' im ersten Test, antwortete der Präsident der Panamerikanischen Sportorganisation, Vázquez Raña: 'Ein Sportler wird untersucht. Ein Sportler wurde positiv getestet. Ich kann keine Namen nennen, aber Sie haben ihn genannt'".

Ab diesem Moment wurde ein Pandämonium wurde über alle Zeitungs-, Funk- und Fernsehmedien entfesselt. Die Stenographische Abteilung des Staatsrats sammelte einen 277 Seiten starken Band mit Nachrichten, Agenturmitteilungen, Artikeln und Kommentaren bezüglich einer hohen Kokaindosis, laut dem Labor in Montreal, im Urin von Javier Sotomayor, die innerhalb von nur sechs Tagen, vom 3. bis zum 9. August, veröffentlicht wurden. Der Band enthielt nur einen unbedeutenden Teil der auf der ganzen Welt veröffentlichten schriftlichen Nachrichten.

Wenn wir die Aussagen seiner Compañeros und von Personen ausnehmen, die über Jahre hinweg das Sportleben, die Gewohnheiten, Normen und Verhaltensweisen des Sportlers genau kannten, dessen unübertreffbare Kette von Triumpfen und dessen eindrucksvoller Weltrekord das Objekt der Bewunderung von Kindern, Jugendlichen und Fans in aller Welt war, so äußerte keine von irgendeinem Medium veröffentlichte Agenturmeldung oder Nachricht den geringsten Zweifel an der Transparenz des Antidoping-Verfahrens, der Objektivität und Unfehlbarkeit der Probe und der absoluten Gerechtigkeit eines äußerst schnellen, unerbittlichen und unanfechtbaren Richterspruchs, der innerhalb von Stunden das Leben, die Ehre und den Ruhm eines außergewöhnlichen Sportlers zu Staub werden ließ. Sotomayor, einem bescheidenen Sportler, der Millionenangebote ausschlug, seiner Frau, seiner Mutter und seinen Kindern würde dann keine andere Wahl mehr bleiben, als für den Rest ihres Lebens das Stigma des "unverbesserlichen Lasterhaften" und "Gewohnheitskonsumenten von Kokain" zu tragen, wie ihn einige seiner Henker mit Zynismus titulierten.

In Winnipeg waren unsere eigenen Leute, das heißt die wichtigsten Führungspersönlichkeiten und Techniker der kubanischen Delegation, wirklich verblüfft. Inmitten einer seit dem ersten Tag von gegen sie entfesselter Feindseligkeit, Diffamierung und Verfolgung geprägten Stimmung - wie es sie vorher niemals bei einem hochrangigen internationalen Sportwettbewerb gegeben hatte, und kurz vor den Leichtathletik-Weltmeisterschaften in Sevilla und den kommenden Olympischen Spielen in Sidney -, die sie bis zum Ende mit Standhaftigkeit und Mut ertrugen, konnten sie sich nicht einmal im Entferntesten einen solchen Schlag gegen ihren angesehensten Sportler vorstellen.

Auch wenn alle absolut sicher waren, daß es unmöglich sei, daß Sotomayor einen solchen Fehler begangen haben könnte, so waren doch das Verfahren der Entnahme, der Kodifizierung, des Transports und der Analyse der Proben, die totale Anonymität des der Probe unterzogenen Sportlers, die völlige Aufrichtigkeit und die nichtkorrumpierbare Ehrlichkeit derer, die an diesem Verfahren teilnahmen und es leiteten, etwas Unantastbares und Heiliges, so daß niemand auf die Idee kam, es in Frage zu stellen. Es gab außerdem ein rigoroses und unverletzbares Regelwerk, auch wenn den Genossen die unaufhörlichen Verletzungen aller festgelegten Normen bekannt waren, und mit den Bestimmungen des Regelwerkes geschah oftmals das gleiche wie mit den Verkehrsschildern. Die Ergebnisse des Labors waren immer das letzte Wort gewesen, wie ein Dogma oder eine aufgedeckte Wahrheit. Dort gab es schlichtweg die hochmodernen Geräte, die das Vorhandensein von Kokain in den Proben des wirklichen oder angeblichen Urins von Javier Sotomayor bei der Analyse der B-Flasche anzeigten, ein zweiter, unfehlbarer und endgültiger Beweis für die absolute Wahrheit.

Niemals hatte irgendjemand den sakrosanten Beweis eines Labors in Frage gestellt, das war nicht einmal denkbar, auch wenn alle Welt die wachsende Korruption und die Unaufrichtigkeit kannte, die die Kommerzialisierung und der Merkantilismus dem Sport gebracht haben. Und als ob nicht die verschiedensten Möglichkeiten zur Vorherbestimmung des Inhalts dieser Proben bestehen würden, und zwar von dem Augenblick an, an dem der Sportler selbst im Athletendorf Quartier bezieht, wo er Lebensmittel und Getränke zu sich nimmt, die andere für ihn zubereiten und ihm verabreichen, bis zu eben dem Moment, in dem sein Urin entnommen, behandelt, verpackt, kodifiziert und zum Labor transportiert wird, wobei man sogar nach Ansicht der Unregelmäßigkeiten im Labor von Montreal zum Schluß kommen kann, daß er dort von einem bestechlichen Funktionär verunreinigt werdem kann, der die Identität des die Probe abgebenden Sportlers kennt, die ihm von jeglichem gleichermaßen bestechlichen Funktionär verraten wurde, einem von den zahlreichen, die diese Identität kennen, einschließlich dessen, der die Probe abnimmt und das erste Formular mit den Angaben des Sportlers und der Anzahl der Proben ausfüllt, um es danach an seinen Vorgesetzten weiterzuleiten.

Mir wurde gesagt, daß diese Aufgabe in Kanada von Freiwilligen durchgeführt wird. Es reicht ein wenig Erinnerungsvermögen, um eine sechsstellige Zahl im Gedächtnis zu behalten. Das ist leichter, als sich in Havanna an die Telefonnummer einer sympatischen jungen Frau zu erinnern. Wenn jemand im Falle eines so bekannten Namens wie dem von Javier Sotomayor einen Probenentnehmer bestechen würde, müßte er keine große Anstrengung unternehmen, um sich daran zu erinnern. Innerhalb von Minuten befänden sich der Name und der Code in den Händen dessen, der bereit wäre, für diesen Service zu zahlen. Es wäre gerechter zu behaupten, daß diese Information von einer höherrangigen Person bereitgestellt werden könnte, die die entsprechenden Codes erhält. Unter diesen Personen gibt es bekannterweise korrupte Leute.

Es gab ein Durcheinander. Alle Gewichtheber behaupten wortwörtlich, daß "ihnen während der Bekanntgabe der Dopingkontrolle im Anschluß an den Wettbewerb in Winnipeg Wasser und Erfrischungsgetränke im Aufwärmbereich ausgehändigt wurden. Sie taten dies weder im Bereich der Dopingkontrolle noch ließen sie sie das Erfrischungsgetränk aus einem Kühlschrank frei auswählen", wie es vorgeschrieben ist.

Sie geben ebenfalls an, daß "die Dopingproben der Kubaner immer in einem seperaten Raum abgenommen wurden, im Unterschied zu dem für den Rest der ausländischen Sportler bestimmten Ort."

Carlos Hernández, Gewichtheber der 94 Kilogramm-Kategorie und Gewinner der Goldmedaille, erzählt, daß "es nach der Einnahme des Erfrischungsgetränks, das ihm ausgehändigt wurde, bei ihm zu einem Absinken des Blutdrucks kam."

Alle Trainer dieser Disziplin erzählen, daß "den kubanischen Sportlern die Proben in einem seperaten Raum abgenommen wurden und daß sie außerdem gezwungen waren, das Erfrischungsgetränk an einem bestimmten Ort und unter Anleitung einzunehmen, wobei es gelegentlich warm war."

Trotz der offenkundigen Feindseligkeit, Willkürlichkeiten, Unregelmäßigkeiten und Fallen, die unsere Delegation tagtäglich ertragen mußte, analysierten unsere Leute die vorher genannten Hypethesen nicht. Das Testgerät gab an, daß es sich um Kokain handelte. Deshalb mußte man etwas zur Rechtfertigung Sotomayors suchen, obwohl er niemals bewußt die unheilvolle und schändliche Substanz zu sich genommen hatte. Er war bereits direkt nach Beendigung des Wettbewerbs nach Kuba abgereist, so daß man nicht einmal unmittelbar eine andere Urinprobe nehmen konnte. Kokain verschwindet innerhalb von Tagen, fast von Stunden. Der Wettbewerb hatte am 30. Juli stattgefunden. Es war bereits der Abend des 3. August. Die "Experten" des Labors und der Medizinischen Kommission der ODEPA behaupteten mit eingebildeter und selbstgenügsamer Sicherheit, daß der Sportler zwei Tage zuvor eine beträchtliche Dosis Kokain zu sich genommen hatte. Einige Personen versichern mir, daß Sotomayor im Falle einer solchen Dosis nicht hätte aus dem Bett aufstehen und viel weniger im ersten Versuch 2.30 Meter überspringen können, ohne die Latte zu streifen.

Jedermann kann die Verbitterung und die Betrübnis der Verantwortlichen und Techniker unserer Delegation verstehen. Sie waren von der Unschuld des noblen und angesehenen Sportlers überzeugt. Er mußte irgendeinen Aufguß oder Tee konsumiert haben. Wie würde man davon erfahren? Es gab nicht einmal Zeit, es in Erfahrung zu bringen. Die Kommission sollte am darauffolgenden Morgen tagen, um eine Entscheidung zu treffen. Wenn es keine andere Alternative gab, waren sie bereit, ihre Ehre und sogar ihr eigenes Leben zu opfern, um die Ehre von Sotomayor und sein Recht zur weiteren Teilnahme an Wettkämpfen zu retten, sein Recht auf die Teilnahme an der Leichathletik-Weltmeisterschaft und um seine kolossale Karriere in Sidney unbesiegt zu beenden. Sie erinnerten sich daran, daß die Behörden in Atlanta und an anderen Orten gnädig waren mit herausragenden Sportlern, die des Dopingmißbrauchs angeklagt waren, wenn eine banale und fromme Erklärung wie die einer Medizin oder eines Teebeutelchens auftauchte.

An diesem selben Abend des 3. August um 22.30 Uhr übermittelten sie ihre Gesichtspunkte dem illustren Präsidenten der Medizinischen Kommission der ODEPA, Dr. Eduardo de Rose, der sich scheinbar bestürzt, verständnisvoll und freunschaftlich zeigte. Es waren nicht wenige unflätige Beleidigungen und sarkastische Spöttereien, mit denen er später in den Massenmedien Sotomayor und unser technisches Personal attackierte. Die Geste und die Beweggründe unseres technischen Teams, dessen Einfluß und Ansehen sich als bestimmend bei der getroffenen Entscheidung erwies, waren altruistisch, uneigennützig und edel. Deshalb tut es mir weh, sie kritisieren zu müssen. Doch in jenem Augenblick vergaßen sie, daß sie nicht mit ehrenhaften Leuten kämpften, daß gegen unsere Sportler und unser Land ein schmutziger und erbärmlicher politischer Krieg geführt wurde, daß wir diesen Kampf nicht mit solchen Taktiken führen konnten und daß dies keine Frage von technischen Argumenten und Rechtfertigungen war. Das, was ich später vortragen werde, wäre nichts wert, wenn wir nicht den Mut hätten, unsere eigenen Fehler einzugestehen und sie öffentlich darzulegen.

Am 4. August gegen 11.00 Uhr morgens erreicht das Büro des Sekretariats des Staatsrats die folgende Information:

"Bei dem gerade zuendegegangenen Treffen der Dopingkommission der ODEPA und des Exekutivkomitees der ODEPA wurde beschlossen, Sotomayor die Goldmedaille abzuerkennen, da die Ärzte die Verantwortung dafür übernommen haben, daß er peruanischen Tee (Verdauungstee) zu sich genommen hat. Das heißt, es als eine medizinische Verantwortlichkeit anzusehen, da er peruanischen Tee zu sich genommen hat.

Um 16.00 Uhr (Uhrzeit in Winnipeg, 17.00 Uhr in Kuba) wird es eine Pressekonferenz geben, bei der diese Maßnahme der ODEPA bekanntgegeben wird.

Daß später Dr. Granda, Direktor des Instituts für Sportmedizin, und Dr. Alvarez Cambras, Direktor des Orthopädischen Krankenhauskomplexes "Frank País", ebenfalls eine Pressekonferenz geben werden, um das Bild von Sotomayor zu reinigen und klarzustellen, daß er nicht die Verantwortung dafür hat.

Die Diskussion bei dem Treffen war sehr heftig.

Da Kanada zwei Silbermedaillen in dieser Sportart erhielt (aufgrund eines Unentschiedens), würden diese jetzt zu zwei Goldmedaillen werden.

Humberto besteht daruf, daß dies eine Machenschaft des Feindes sein muß, wobei er die Erfahrung von Sotomayor und die Tatsache berücksichtigt, daß dieser in den letzten acht Monaten mehr als fünfzehn Proben dieser Art unterzogen wurde.

Humberto möchte, daß wir dem Comandante diese Aspekte übermitteln.

Diese Entscheidung wird am Abend des 3. August getroffen, ohne uns zu konsultieren. Gewiß waren wir um 18.00 Uhr an diesem Tag in Richtung Matanzas aufgebrochen, um am Festakt zur Erinnerung an den Sturm auf die Moncada-Kaserne teilzunehmen, der um 20.00 Uhr in jener Stadt veranstaltet wurde und spät in der Nacht endete. Da ich an jenem Tag die Materialien für die Rede durchsah, hatte ich nicht einmal eine freie Minute, um zu frühstücken. Es gab während des Tages keinerlei Möglichkeit der Kommunikation.

Was war in Winnipeg geschehen? Unsere Delegation erhielt die Bestätigung der B-Probe um 19.30 Uhr (Uhrzeit in Winnipeg), und als sie sich um 22.00 Uhr (Uhrzeit in Winnipeg) mit dem berühmten Dr. De Rose trafen, waren es noch Stunden bis zur Beendigung unseres Festaktes in Matanzas. Im Morgengrauen des 4. August näherten wir uns auf der Rückfahrt Havanna. Man mußte schnellstens das Material der Rede von Matanzas auswählen zur unverzüglichen Übergabe an die ausländische Presse. Erst am Nachmittag konnten wir uns mit den Nachrichten beschäftigen, die uns aus Kanada erreichten.

Zusätzlich zur bereits erwähnten Nachricht vom 4. August informiert man uns, daß das technische Team um 17.00 Uhr Uhrzeit in Winnipeg (18.00 Uhr in Kuba) eine Pressekonferenz geben würde. Man fragte nach, ob die am Morgen beim Treffen mit der Dopingkommission der ODEPA verfolgte Linie beibehalten werden sollte. Erst gegen 17.00 Uhr kubanischer Zeit konnten wir uns mit den Nachrichten von den Panamerikanischen Spielen beschäftigen. Um diese Uhrzeit lese ich zügig die Botschaft hinsichtlich des morgendlichen Treffens mit dem Komitee der ODEPA und der dabei verfolgten Linie. Ich mußte außerdem dringend die Nachfrage bezüglich der in jener Pressekonferenz zu verfolgenden Linie beantworten.

Um die Anweisungen, die ich übermittelte, besser zu verstehen, muß ich das Folgende vortragen:

Auf Bitten der Genossen in Winnipeg besuchte Christian am 3. August um 2.30 Uhr morgens Sotomayor in seiner Wohnung, die sich im Stadtbezirk Playa in Havanna befindet. In der Nähe hielten sich bereits einige Journalisten der in Kuba akreditierten ausländischen Presse auf, die mit ihren Kamaras und ihrer Ausrüstung gegenüber der Wohnung des Sportlers Wache hielten. Sie hatten dort bereits Stunden zugebracht -man beachte, mit welcher Schnelligkeit sie herbeigeeilt waren -, seit dem Ende des 2. August, sehr viel eher als das Treffen des Präsidenten der ODEPA mit der Presse, bei dem sie ihn fragten, ob die A-Probe von Sotomayor einen positiven Befund ergeben hätte. Das war bereits vox populi in Winnipeg, aber auch bei den ausländischen Medien in Havanna. Sotomayor wußte bereits von Gerüchten, daß man ihn des Dopingmißbrauchs beschuldige, aber er war weit davon entfernt sich vorzustellen, daß er beschuldigt würde, in dem Moment Kokain konsumiert zu haben, in dem er mit breitem Abstand die Latte auf einer Höhe von 2.30 Meter überquerte, also etwas, das er mehr als dreihundert Mal im Laufe seiner brillianten Karriere geschafft hatte. Als Christian ihn darüber informierte, daß die Laborprobe das Auftreten dieser Droge ergeben habe, wurde die Situation dramatisch: Sotomayor brach mit tiefer Abscheu und Wut in Tränen aus. Als ihn Christian fragte, ob er irgendeinen heißen Aufguß oder Tee konsumiert habe, antwortete Sotomayor, eine von dessen Eigenschaften gemäß allen, die ihn kennen, die Bescheidenheit ist und der immer dann, wenn er kritisiert oder auf etwas hingewiesen wurde, nicht eine Sekunde zögerte, jeglichen Mangel, Fehler oder jegliche Disziplinlosigkeit in seinem Training, so klein sie auch gewesen sei, einzugestehen, und der obsessiv war bei seiner sprichwörtlichen Sorgfalt in bezug auf alles, was er zu sich nahm, bis zu dem Extrem, daß er systemmatisch den Gebrauch von Vitaminen oder Medikamenten ablehnte, kategorisch, daß er weder diese Substanz noch irgendeine Art von Aufguß oder Tee konsumiert habe, dem man dieses Ergebnis hätte zuschreiben können. Er war nicht bereit, dies zu akzeptieren, ungeachtet der Folgen, die dies für ihn haben könnte.

Während die Genossen in Winnipeg, ohne ihn konsultiert haben zu können, irgendeine Erklärung suchten, ausdachten und sogar irgendeine Formel zugaben, die ihn innerhalb der durch das fulminante Resultat des kanadischen Labors unumkehrbar erscheinenden Situation begünstigen sollte, bestritt Sotomayor mit Würde, daß er einen Aufguß oder Tee irgendeiner Art konsumiert habe. Christian, der ein außergewöhnlicher Zeuge dieses harten, traumatischen und bitteren Augenblicks war und der nicht an der Integrität des populären und bewunderten Sportlers zweifelte, blieb ein tiefer Eindruck von der Aufrichtigkeit und Würde, mit der er reagierte.

Die falsche Taktik, die bei dem morgendlichen Treffen mit der Dopingkommission der ODEPA verfolgt wurde, war mehr als offensichtlich.

Am 4. August um 17.23 Uhr gelang es mir, mich mit Humberto in Verbindung zu setzen, der ungeduldig auf die Antwort wartete, als nur noch 37 Minuten bis zum Treffen des technischen Teams mit der Presse verblieben. Im Folgenden nenne ich die wichtigsten Kriterien, die ich ihm übermittelte:

Es dürfen keine Theorien entwickelt werden, die seine Ehre verletzen.

Wir dürfen keine technischen Lösungen für das Problem suchen.

Man muß erklären, daß er es beharrlich abstreitet, daß er ein ein aufrichtiger Mann ist und es sein ganzes Leben gewesen ist und daß wir ihm glauben. In kurzen Worten: Man muß ihm glauben, weil er ein Mann ist, der niemals einen schwerwiegenden Fehler oder eine solche Disziplinlosigkeit begangen hat, und seine Charakteristik ist die Aufrichtigkeit.

Ihr dürft euch nicht von dem Wunsch leiten lassen, daß er weiterhin an Wettkämpfen teilnehmen kann. Er hat geweint, und zwar aus Abscheu.

Wir dürfen ihm nicht das mit dem Tee anhängen, weil wir damit seine Aufrichtigkeit in Frage stellen und einer ungerechten Anschuldigung Vorschub leisten.

Angesichts all dessen, was dort passiert ist, weiß der Himmel, wie dieses Resultat zustandegekommen ist, das auch einen Schlag für das Ansehen des Landes darstellt.

Wir müssen es abstreiten und uns auf die Tatsache stützen, daß er ein aufrichtiger Mann ist. Er ist ein ehrenwerter Mann, dem man niemals eine schwerwiegende Disziplinlosigkeit nachweisen konnte.

Wir dürfen dabei nicht schwanken. Man muß ein solches Resultat anfechten. Schwankt keine Sekunde.

Man kann solchen Proben nicht vertrauen, wenn man von all dem Mist weiß, den sie angerichtet haben, und noch viel weniger, wenn sie hierbei Kokain ins Spiel bringen, etwas, das nicht nur dem Sportler, sondern auch Kuba das Ansehen entzieht.

Man muß ihn verteidigen. Das ist der Moment, in dem man ihn am meisten verteidigen und ihm am meisten vertrauen muß. Räumt nicht die geringste Möglichkeit ein, daß er das getan hat. Wir müssen ihm vertrauen, weil wir ihn gut kennen. Wir haben Tausend Gründe dafür, ihm zu vertrauen.

Humberto stimmte vollkommen mit dieser Haltung überein.

Minuten danach gelang es mir, mich mit Fernández in Verbindung zu setzen. Ich sprach wenige Minuten mit ihm und erläuterte ihm ähnliche Kriterien:

Das ist willkürlich. Unter so vielen Dingen, die geschehen sind, sehen wir dies als eine der größten Ungerechtigkeiten an, die dort begangen wurden.

Es ist infam, von Kokain zu sprechen.

Wir haben ihm aufgrund seines Verhaltens immer vertraut. Wir können jetzt nicht an ihm zweifeln oder ihn in Frage stellen. Wenn wir ihn in Frage stellen, indem wir eine technische Lösung suchen, um der getroffenen Entscheidung entgegenzuwirken, stellen wir damit sein Ansehen und seine Ehre in Frage. Ich glaube ihm, Fernández.

Darauf antwortet mit Fernández: Ich glaube ihm, wir müssen darlegen, daß wir an sein Wort glauben und ihn als unschuldig ansehen.

Das Niederträchtigste am Fall von Javier Sotomayor war, daß sie ihm die Medaille abnahmen aufgrund der Beschuldigung des Konsums einer Droge, bei der es aufgrund ihres flüchtigen Auftretens keine Möglichkeit gab, auf wissenschaftliche Methoden zurückzugreifen, um auf unwiderlegbare Weise den Betrug zu beweisen. Es blieb nur die Alternative, die moralische Schlacht zu schlagen mit Hinweis auf das Leben, die Geschichte und die profunde und intime Kenntnis der Eigenschaften des Sportlers und seines Verhaltens während seiner außergewöhnlichen Sportlerkarriere.

Wir hatten das legitimste Recht, ihm zu vertrauen, einem Mann von bescheidener Herkunft, uneigennützig, bewundert und geliebt von unserem Volk und all denen, die ihn im Ausland kennengelernt haben und mit ihm zu tun hatten.

Er spendete Zehntausende Dollar, die er 1993 für die Auszeichnung "Prinz von Asturien" erhalten hatte, vollständig seinem Land und dies in der härtesten Zeit der Spezialperiode. Ich weiß es sehr gut, denn er übergab mir die Spende persönlich. Er war damals 26 Jahre alt und bereits Weltrekordler. Es hätte ihn beleidigt, wenn wir die Spende abgelehnt hätten, damit er mit diesem Geld, das er niemandem gestohlen hatte, seinem bescheidenen Heim und seiner armen und opferbereiten Familie helfe. Es war schwer, ihn mit einem Teil dieser Geldmittel zu belohnen, ohne ihm wehzutun oder ihn zu beleidigen, und dies geschah fast ohne daß er es bemerkte. Wir konnten ihn jetzt nicht der infamen Maschinerie des Merkantilismus und der Werbung überlassen, die Menschen verschlingt und den Sport prostituiert und geschändet hat.

Warum sollten wir einem desorganisierten und indiskreten Labor des Austragungslandes mehr Glauben schenken? Ein Austragungsland, das hoffte, Kuba vom zweiten Platz zu verdrängen, den es bereits endgültig und unwiderruflich eingenommen hatte, ohne dabei zu vergessen, daß wir mit der von Sotomayor gewonnenen Medaille und denen von zehn weiteren Helden jener Großtat die Vereinigten Staaten in einer ihrer stärksten Sportarten vom ersten Platz verdrängt hätten.

Indem sie uns die Medaille von Sotomayor entrissen, beraubten sie uns auch dieser Ehre.

Warum sollten wir den Organisatoren, die nicht fähig waren, den Respekt und die physische Integrität der Mitglieder unserer Delegation zu gewährleisten, mehr Vertrauen schenken?

Warum sollten wir einer medizinischen Kommission, deren Vertreter unseren ruhmreichen Sportler mit Beleidigungen überschüttet und unsere Delegation über die Medien auf eine spöttische und zynische Art und Weise beschmutzt, mehr Vertrauen schenken?

Aber es gibt einen entscheidenden Unterschied zwischen dem, was es bedeutet, Sotomayor seine Medaille zu entreißen und dem, zwei unserer Gewichtheber die Goldmedaillen zu entreißen.

Das Entreißen der Medaille im Fall Sotomayors war begleitet von einer zerstörerischen und infamen Beschuldigung. Man beschuldigte ihn vor den Augen der Welt, ein Drogenabhängiger zu sein, ohne dabei im Geringsten zu berücksichtigen, daß mehr als einhundert Dopingproben, viele davon überraschend, ohne daß man jemals auch nur eine einzige Spur von Drogen oder Anabolika gefunden hätte, für sein sauberes und unbeflecktes Sportlerleben bürgen.

Die Gewichtheber bezichtigte man des Mißbrauchs eines Anabolikums, nämlich des Nandrolon, einer gewöhnlich im Profisport verwendeten Substanz, ahndungswürdig, unzulässig und im Falle eines Amateursportlers wert, mit einer exemplarischen Sanktion belegt zu werden. Obwohl der moralische Schaden groß ist, zerstört dies nicht das ganze Leben eines jungen Sportlers, seine Ehre und die Ehre seiner Familie, mit einem untilgbaren gesellschaftlichen Fleck, der immer zusammen mit seinen sportlichen Großtaten auftauchen wird.

Im Fall von Javier Sotomayor konnten sie nicht ignorieren, daß sein bis jetzt ungeschlagener Rekord heute, morgen und in alle Ewigkeit mit der infamen wiederholten Behauptung verbunden wäre, daß er ein Drogenabhängiger sei.

Doch gleichzeitig beschuldigte man im Fall der Gewichtheber sie das Auftreten einer Substanz in ihrem Urin, die nur wirksam werden kann, wenn man sie intramuskulär einspritzt, und die bis zu sechs Monate im Organismus des Sportlers verbleiben und nachgewiesen werden kann. So bekräftigten es die bekannten "Experten" aus Winnipeg, als sie die Gewichtheber verdammten.

Als wir am 6. August die Nachricht erhielten, daß in den Laboranalysen von William Vargas, Gewichtheber der 62 Kilogramm-Kategorie, Nandrolon gefunden wurde, dachte ich sofort an einen neuen Betrug, der die infame Anschuldigung gegen Sotomayor unterstützen und dazu dienen sollte, die Glaubwürdigkeit der Anklage gegen den unübertrefflichen Hochspringer und das Ansehen des kubanischen Sports zu bekräftigen.

Ich wies Christian an, den Gewichtheber an diesem selben Tag ausfindig zu machen, ihn in sein Büro im INDER zu bestellen und mit ihm zu sprechen. Er sollte seinen Standpunkte anhören und ihm mit dem größtmöglichen Taktgefühl die Notwendigkeit mitteilen, unverzüglich Urinproben abzunehmen, um ihn vor einer möglichen Ungerechtigkeit zu bewahren. Christian sollte ebenfalls unverzüglich den Arzt des Gewichtheberteams und den Trainer des Sportlers ausfindig machen.

Der Gewichtheber, der zu diesem Zeitpunkt noch nicht zurückgekehrt war, kam in den ersten Morgenstunden des 7. August an. Er wohnt im Kreis Caimito in der Provinz La Habana und seine Frau brachte am selben Tag ein Kind zur Welt, als er die Goldmedaille gewann. Dies war trotzdem kein Hindernis, damit er sich, nachdem er ausfindig gemacht wurde, zur Leitung des INDER begab, um die Proben bereits spät abends abzugeben, wobei er seine Aufgabe am Morgen des nächsten Tages beendete. Es waren vier Tage seit dem Moment vergangen, in dem bei ihm die Proben in Winnipeg abgenommen wurden.

Der Sturzregen an Nachrichten und Kommentaren in bezug auf Sotomayor hatte noch nicht aufgehört, als der Skandal der kubanischen Gewichtheber entfesselt wurde. Unsere Delegation in Winnipeg kam nicht zur Ruhe.

Am Abend des 8. August gaben Mitteilungen von verschiedenen Nachrichtenagenturen bekannt, daß ein weiterer kubanischer Gewichtheber, Rolando Delgado Núñez, Gewinner der Goldmedaille in der 69 Kilogramm-Kategorie, seine Medaille wegen Dopings mit Nandralon abgenommen bekommen hatte.

Er wohnt in Pinar del Río, und an diesem selben Abend machte man ihn unverzüglich ausfindig und brachte ihn nach Havanna. Ihm konnten um 12.00 Uhr in der Nacht des 9. August Urinproben abgenommen werden, fünf Tage nach seiner Probennahme in Winnipeg.

In beiden Fällen war der Zeitunterschied minimal. Es war absolut unmöglich, daß diese einspritzbare Substanz, die Monate im Organismus verbleibt, nicht im Urin der Sportler auftauchen würde, denen die Medaillen wegen Dopings mit Nandrolon aberkannt wurden.

Es handelte sich jetzt nicht mehr nur um das sich verflüchtigende und schwer zu greifende Kokain, dessen Mißbrauchs man Sotomayor beschuldigte. Wenn man beweisen konnte, daß die Proben absolut frei von diesem Anabol waren, würde die Behauptung des angeblichen Auftretens der sündhaften Substanz, die die selben Personen und das selbe sakrosante kanadische Labor im Urin von Sotomayor fanden, nicht mehr zu halten sein. Doch das erschien wie ein Traum und etwas praktisch Unmögliches.

Da die Unterstellungen in den Mitteilungen der Nachrichtenagenturen bezüglich neuer Dopingfälle bei kubanischen Gewichthebern weitergingen, wurden die restlichen Gewichtheber, die Gold- und Silbermedaillen gewonnen hatten, unverzüglich für den 8. und 9. August einbestellt. Es war notwendig, die Sportler und auch ihre Trainer dringend ausfindig zu machen.

Der Arzt des Teams - er machte Urlaub in Holguín - war schwieriger zu finden. Nach drei Tagen war er ausfindig gemacht und per Flugzeug in die Hauptstadt gebracht worden.

Die Proben der letztgenannten Sportler wurden hier knapp vier Tage nach den Probenahmen in Winnipeg genommen, und zu diesem Zeitpunkt war keiner von ihnen als nandrolongedopt festgestellt worden.

Parallel dazu wurden am gleichen Abend die entsprechenden Anweisungen gegeben, um zu entscheiden, wo die Analysen der Proben durchgeführt werden sollten, von wem und wie sie transportiert werden, wie die entsprechenden Visa umgehend zu bekommen waren und welche Maßnahmen der begrenzten Einweihung und absoluten Geheimhaltung getroffen werden mußten.

Es war bereits nach 24.00 Uhr, als nur noch eine kurze, aber sehr wichtige Erklärung ausstand, die am nächsten Morgen, den 9. August, zu den beiden letzten bereits offiziell mitgeteilten Fällen veröffentlicht werden und präzise und kategorisch die Haltung der Regierung Kubas im Hinblick auf jeden bewiesenen Dopingfall darlegen sollte.

Um 5.00 Uhr morgens landete die letzte Maschine mit 93 Mitgliedern der kubanischen Delegation sowie José Ramón Fernández, Präsident des Kubanischen Olympischen Komitees; Humberto Rodríguez, Präsident des INDER (Nationales Institut für Sport, Körperkultur und Erholung); Dr. Mario Granda, Direktor des Instituts für Sportmedizin, der sich unmittelbar wichtigen Aufgaben im Zusammenhang mit den laufenden Nachforschungen zuwenden mußte, und andere wichtige Spezialisten.

Nach dem Empfang trafen wir uns mit den Hauptverantwortlichen und dem technischen Personal der Delegation auf dem Flugplatz. Ich unterrichtete sie über die Schritte, die wir bereits unternommen hatten, und gemeinsam erarbeiteten wir auf der Grundlage der verfügbaren Angaben die Erklärung der Regierung, in der wir über das INDER dem Volk mitteilten, daß es tiefgründige Nachforschungen geben werde hinsichtlich der Anschuldigungen gegen die Gewichtheber, um zu klären, wie wir bereits zu Beginn unserer Ausführungen sagten, ob es sich hier um eine weitere Schuftigkeit gegen unser Land handelte oder ob das Anabolikum tatsächlich bei den genannten Sportlern festgestellt wurde, und daß wir entschieden haben, die Ergebnisse dieser Recherchen der Öffentlichkeit im In- und Ausland bekanntzugeben.

Um 8.20 Uhr am 9. August wurde diese Note bereits im Fernsehen gesendet.

Wir konnten diese Äußerungen auf diese Weise vorbringen, denn diesmal hatten wir sehr wohl Möglichkeiten des Einsatzes wissenschaftlicher Methoden, um die Laborergebnisse, die wir als betrügerische und ungerechte Anschuldigungen betrachteten, zu bestätigen oder abzulehnen.

Weshalb sprachen wir von der Möglichkeit, die Verschwörung gegen Kuba vollständig und unwiderlegbar zu entlarven? Obgleich, wie Sie sehen werden, solide und ebenfalls unwiderlegbare Argumente die Unwahrheit der Anschuldigungen durch Beweisführungen, Analysen, ärztliche Verfahren und andere Methoden beweisen können, sollten in diesem Falle andere renommierte Laboratorien das letzte Wort sprechen.

Doch es gab vier Gründe, die mich eher skeptisch machten:

Erstens: Es war faktisch unmöglich, daß jene, die unseren Sport und unser Land treffen und in Mißkredit bringen wollten, so dumm sein konnten, ein Anabolikum mit Retardwirkung einzusetzen, bei denen mit technischen Mitteln unschwer das Fehlen von Spuren nachweisbar ist. Das wäre einzig und allein erklärlich, wenn sie uns bis ins Unendliche unterschätzten.

Zweitens: Im Gewichtheben hat sich weltweit die Gewohnheit des Einsatzes von Anabolika herausgebildet, der in einigen Ländern fast allgemein üblich ist. Auch bei uns gab es, wenngleich sehr wenige, so doch einige Fälle solcher Disziplinlosigkeiten bei Trainern und Sportlern dieser Sportart.

Drittens: Einer der jetzt beschuldigten Sportler war vor Jahren wegen Anabolikabenutzung sanktioniert worden. Und sein Trainer, um das Bild noch besorgniserregender zu machen, war aus dem gleichen Grund ebenfalls sanktioniert worden, was tatsächlich recht auffällig war.

Wenn es sich also, wie wir glauben, um eine Verschwörung gegen uns handelte, so hatte der Feind sehr clever ins Schwarze getroffen.

Viertens: Wenn nur eines der verschiedenen exzellenten und renommierten ausgewählten Laboratorien übereinstimmend mit den Analyseergebnissen von Montreal auch nur die geringste Menge Nandrolon im Urin der sanktionierten Sportler nachwies, so war dies ausreichend, und man hätte unverzüglich die Gültigkeit und Genauigkeit der von dieser Institution vorgelegten Ergebnisse zugeben und verbreiten müssen.

Keinem der von uns ausgewählten Labors sollte irgendetwas über den Code der Sportler bekannt sein, und der Genosse, der die Proben transportierte, wußte absolut nichts über deren Identität. Unter solchen Umständen würde die internationale Glaubwürdigkeit von etwas beträchtlich geschmälert werden, worüber wir nicht den geringsten Zweifel hegen: die Unschuld von Javier Sotomayor.

Es gab noch weitere Schwierigkeiten. Die genannten reichen bereits aus, um sich der Risiken unserer Untersuchung bewußt zu werden, doch wir mußten sie eingehen. Es war unsere elementarste moralische Pflicht.

Im Verlauf der Untersuchung ergaben sich zwei positive Aspekte:

Erstens: Angesichts der Risiken, die diese sportliche Disziplin umgaben, war am 4. Januar 1995 ein neuer Beauftragter ernannt worden, ein Oberstleutnant a.D. der Revolutionären Streitkräfte, der zwölf Jahre lang die Sektion Körperertüchtigung und Sport im Ministerium der Streitkräfte geleitet hatte. Vordem war er als internationalistischer Kämpfer eingesetzt gewesen. Dieser Beauftragte hat seit seiner Amtsübernahme eine ausgezeichnete Arbeit im Hinblick auf Organisation, Disziplin, Erhöhung des fachlichen Bewußtseins und Stärkung der Ethik und des patriotischen Geistes in der Sportart Gewichtheben geleistet. Das Team, das uns in Winnipeg repräsentierte, war unschlagbar, und in Kuba war eine Reserve zurückgeblieben, die ebenfalls in der Lage war, große Lorbeeren zu ernten.

Zweitens: Das Institut für Sportmedizin und ein junger und intelligenter Arzt, der mit der gesundheitlichen Betreuung der Nationalmannschaft der Gewichtheber betraut war, haben, jeder auf seinem Gebiet, ein System der integralen Betreuung dieser Sportler vervollkommnet.

Eine systematische Kontrolle und Überwachung in bezug auf den Einsatz von Anabolika machten das Auftreten von Dopingfällen fast unmöglich.

Bei einem Gespräch sagte mir der Arzt der Nationalmannschaft, daß er, kaum das Arztdiplom in der Tasche, mit bloßem Auge feststellen konnte, ob jemand gedopt war oder nicht.

Als die Dopinganschuldigungen gegen zwei von unseren Goldmedaillengewinnern vorgebracht wurden, konnte ich bemerken, daß alle, die direkt mit den Sportlern zu tun hatten, die Möglichkeit, daß es wahr sein könnte, von der Hand wiesen. Bei keinem von ihnen konnte ich auch nur den geringsten Zweifel feststellen. Mir selbst, als ich über die erstgenannten Faktoren nachdachte, schien es unmöglich, daß ausnahmslos alle Angaben, die die Aberkennung der Medaillen unserer Sportler begründeten, widerlegt werden könnten. Wie im Boxsport benötigte man einen Punkt der Übereinstimmung, bei dem die Mehrzahl der Richter dafür stimmen, doch in diesem besonderen Fall mußten es alle sein, ohne eine Gegenstimme.

Die Laborergebnisse sollten das letzte Wort dazu sagen.

Wir dachten daran, drei verschiedene Laboratorien zu engagieren. Der Direktor für Sportmedizin wandte sich an fünf europäische Labors und beantragte ihre Dienste mit der Begründung, es bestehe die Notwendigkeit der Anfertigung von Laboranalysen bei Gewichthebern. Er wandte sich an Barcelona, Madrid, Portugal, London und Belgien.

London antwortete, daß es wegen Reparaturen nicht möglich sei. Die anderen sagten zu.

In Anbetracht der Dringlichkeit sowie der Entfernungen der anderen Laboratorien entschieden wir uns für drei auf der iberischen Halbinsel. Die Leichtathletik-Weltmeisterschaften in Sevilla bereiteten noch zusätzliche Schwierigkeiten. Barcelona, das Hauptzentrum der Dopingproben der Olympischen Spiele 1992, und Madrid standen zur Verfügung der Weltmeisterschaften. Das letztgenannte Laboratorium war zeitweise mit Arbeit überhäuft. Von Sevilla erhielt es täglich fast 50 Proben. Strengste Diskretion war unerläßlich.

Nur drei Personen würden den Code kennen, der die Proben und ihre jeweiligen Spender identifizierte: Christian, der Vizepräsident des INDER, dem ich in Abwesenheit von Humberto die Verantwortung für alle zu treffenden Sofortmaßnahmen übertrug; Mario Granda, Direktor des Instituts für Sportmedizin, und ich, wobei ich je ein Exemplar in einem versiegelten Umschlag zurückbehielt.

Doktor Palacios, Biochemiker des Instituts, der die Proben überbrachte und dem der Programmablauf im Ausland oblag, kannte den Code nicht. Eingereicht wurden drei Doppelproben der Goldmedaillengewinner und eine Doppelprobe der Silbermedaillengewinner. Insgesamt waren es 40 Proben. 6 in Madrid, 7 in Lissabon und 7 in Barcelona. Am Mittwoch, den 11. August, um 17.25 Uhr, startete der Biochemie-Fachmann mit seiner kostbaren Fracht an Bord in Richtung Madrid.

Zu dieser faszinierenden Etappe des Ermittlungsprozesses werde ich nichts weiter sagen. Die Mitteilungen von Palacios, jeden wesentlichen Schritt informierend, sollen für sich sprechen.

Madrid, den 12. August 1999

Christian:

Erste Sendung in Madrid um 12.50 Uhr übergeben. Möglicherweise beschleunigte Antwort; noch nicht bestätigt. Übermittle kommende Woche eventuelle Änderungen. Mögliche Übergabe morgen in Lissabon, Anruf steht noch aus.

Gruß

Miguel

Madrid, den 17. August 1999

Christian:

Bis jetzt wurde folgendes erledigt:

- Ich händigte die Proben am Freitag, den 13. August, in Lissabon aus. Die Analysen wurden angefertigt, und ich erhielt die Ergebnisse am Sonntag, den 15. August: Alle mit negativem Befund (-)

- Am Sonntag kehrte ich nach Madrid zurück, am Montagmorgen reiste ich nach Barcelona und übergab die Proben. Die Ergebnisse werden Anfang nächster Woche vorliegen, denn sie haben wenig Personal (Urlaubszeit)

- In Barcelona war keine Unterkunft zu bekommen. Es gab nur sehr teure Hotelzimmer, deshalb bin ich gestern abend nach Madrid in das gleiche Hotel zurückgekehrt.

- Ich werde hier auf die Antwort aus Barcelona warten und versuchen, die aus Madrid zu beschleunigen, deren kürzester Termin der 31. August ist.

-In Barcelona hatte ich eine sehr interessante Unterredung mit dem Direktor. Ein ausführlicher Bericht kommt Freitag per Kurier.

Gruß

Miguel

23. August 1999. Eine außergewöhnliche Überraschung unterbricht die deliziösen Berichte von Palacios. Sie versetzt uns wieder in den Alptraum vergangener Tage. An diesem Tag erhalten wir ein FAX aus Porto Alegre, Brasilien:

Porto Alegre, den 23. August 1999

Lic. Humberto Rodríguez

Leiter der Mission Kubas

Kubanisches Olympisches Komitee

Calle 13 Nr. 601

Vedado, Havanna

Kuba

Werter Herr Rodríguez!

Hiermit setzen wir Sie in Kenntnis, daß in der Urinprobe Ihres Sportlers Modesto Sánchez, Teilnehmer der Panamerikanischen Spiele in der Disziplin Gewichtheben in der Kategorie über 105 kg Nandrolonmetaboliten festgestellt wurden. Die Kontrolle wurde am 7. August 1999 in der Centennial Concert Hall durchgeführt.

Die B-Probe wird am 30. August um 9.00 Uhr im Dopinglabor des INRS-Santé, befindlich in 245, boul. Hymus, Point Claire, Montreal, durchgeführt. Gemäß den Richtlinien der ODEPA ist Ihre Delegation berechtigt, maximal drei Delegierte zum Labor zu entsenden. Wir bitten Sie freundlichst um Mitteilung ihrer Namen per FAX (1.514) 630-8850 oder per Telefon (1.514) 630-8806 an die Direktorin des Labors, Frau Prof. Christianne Ayotte.

Bestätigt sich das Ergebnis der A-Probe, tritt am 4. September 1999 die Medizinische Kommission der ODEPA um 22.00 Uhr im Salon des Präsidiums des Guatemaltekischen Olympischen Komitees im Palacio de los Deportes, 24 calle 9-31, zona 5, 3er Nivel, in Ciudad Guatemala zusammen. Zu dieser Versammlung sind der Sportler und maximal drei Mitglieder seiner Delegation eingeladen.

Hochachtungsvoll

Prof. Dr. Eduardo Henrique De Rose

Vorsitzender der Ärztekommission der ODEPA



Sechzehn Tage nach dem 7. August, an dem die Probe genommen wurde, erhält Kuba die Mitteilung.

Die Urinprobe von Modesto Sánchez befand sich bereits seit geraumer Zeit auf der iberischen Halbinsel. Na wunderbar! Nun sind es nicht mehr zwei, sondern drei wegen Nandrolon sanktionierte Sportler. Um so schlimmer für die Schuldigen, wenn das Schlußwort eines der drei renommierten Laboratorien zu ihren Ungunsten ausfällt. Gibt es zufällig noch irgendeinen kubanischen Gewichtheber, der noch nicht sanktioniert wurde? Wie lange noch sollen Kuba die Gold- und Silbermedaillen entrissen werden? Gäben wir ihnen auch die drei übrigen Goldmedaillen der Gewichtheber zurück, ohne dabei an die zehn zu denken, die wir mit Leichtigkeit gewonnen hätten, wäre nicht am Vorabend des Wettkampfes willkürlich die Anzahl der traditionell in dieser Sportart erkämpften Medaillen reduziert worden - nämlich mit dem Ziel, die Möglichkeiten Kubas zu vermindern -, so stünden wir immer noch auf dem zweiten Platz. Wenn sie es wünschen, geben wir alle Medaillen zurück, die wir in einem so harten Wettkampf voller widriger Faktoren bei den Panamerikanischen Spielen in Winnipeg gewonnen haben. Und nicht einmal so könnten sie uns den Weltmeistertitel in der Verteidigung eines gesunden Sports, der Ehre, der Würde und der Lauterkeit unserer Sportler streitig machen.

Es existiert ein Dokument, das anormaler nicht sein kann. Es ist ein Schreiben des Herrn De Rose an die kubanische Delegation, datiert vom 2. August und eigenhändig von ihm unterzeichnet, in dem mitgeteilt wird, daß im Urintest des Sportler William Vargas, der noch gar nicht angetreten war, noch hatte man ihm irgendeine Probe entnommen, Nandrolon festgestellt worden sei. Etwa ein Schreibfehler? Ein Fehler des Computers? Ein vorher ausgearbeitetes und irrtümlich bei uns gelandetes Dokument? Chronik eines angekündigten Todes, wie der Roman von García Márquez?

Am gleichen Tag erreichen uns einige Stunden danach weitere Mitteilungen von Palacios.

23. August 1999

Christian!

Vor einer Weile sprach ich mit den Direktoren der beiden noch ausstehenden Labors. Das hiesige hat noch nichts weiter unternommen, denn sie stecken in einer anderen für sie vorrangigen Arbeit. Sie sagten mir, daß ich am Mittwoch, dem 25. August, anrufen soll, um zu sehen, ob sie etwas haben. Das andere Labor ist ziemlich weit. Morgen früh müßten sie fertig sein. Wir sind so verblieben, daß ich sie um 9.30 anrufe.

Alle wissen bereits, daß wir eine mehrfache Sendung übergeben haben (Vergiß nicht, daß eine sehr gute Kommunikation und Kooperation existiert, denn sie erstatten in bestimmten Zeitabständen ihrem übergeordneten Organ Bericht.) (Er meint das IOC)

Sie äußerten, diese sei eine ungewohnte und wenig übliche Situation. Sie zeigten Befremden unterschiedlichen Ausmaßes, wobei das hiesige Labor das streitsüchtigste ist. Ich erklärte ihnen, daß wir die Relation zwischen dem Preis und der Zeit prüfen, in der die Antwort erfolgt und wir deshalb die Proben in verschiedene Partien eingeteilt haben, um alles in der Praxis zu verfolgen. Es wurde so akzeptiert, nur das von hier zeigte einen gewissen Vorbehalt.

Gruß an alle. Umarmung

Miguel

P.S. Morgen berichte ich wieder.



An diesem 23. August äußerten sie im Laboratorium in Madrid - wie Sie der Botschaft entnehmen konnten - unserem unermüdlichen, effizienten und beharrlichen Biochemiker Miguel Palacios gegenüber, der wie ein neuer Quichote von einer Seite zur anderen der iberischen Halbinsel eilte, ihr Befremden in bezug auf seine Besorgungen, die er in drei verschiedenen Einrichtungen tätigte. Zu diesem Zeitpunkt konnte er ihnen den Grund der Betreibung seines Anliegens nicht erklären. Er hatte Anweisung, es niemandem zu sagen. Er antwortete ihnen mit zwar liebenswürdigen, doch so wenig überzeugenden Worten, daß nicht einmal ich, der in das Geheimnis eingeweiht war, beim Lesen recht verstehe, was er eigentlich sagen wollte. Ich bin nicht sicher, daß sie ihm absolut alles glaubten. Vielleicht hegten sie den Verdacht, daß die Kubaner versuchten, einige der Geheimnisse von Winnipeg zu ergründen.

Vielleicht war ihnen der Fall der Gewichtheber nicht bekannt; sie waren durch die Leichtathletik-Weltmeisterschaften in Sevilla mit Arbeit überhäuft; doch es konnte ihnen nicht unbekannt sein, daß dem in Spanien so bekannten Sotomayor, wo er seinen außerordentlichen Rekord aufstellte, wegen einer angeblichen und hohen Dosis Kokain, die er laut den metaphysischen Theorien des Vorsitzenden der Ärztekommission der ODEPA und der Laboratorien von Montreal zwei Tage vor dem Wettkampf genommen haben soll, eine Sanktion ausgesprochen wurde.

Wir bitten die Direktion des Laboratoriums in Madrid um Entschuldigung. Heute antworten wir auf ihre Fragen.

Wir hatten mit diesen Laboratorien die Anfertigung von Analysen vereinbart und haben die wesentlichen Angaben dazu geliefert; wir waren zu nichts weiterem verpflichtet. Die beantragten Leistungen konnten keinen legitimeren Zweck haben. In den drei Laboratorien war man freundlich, seriös, effizient und verständnisvoll. Deshalb möchten wir neben unserer Entschuldigung ihnen auch unseren tiefsten Dank aussprechen.

Am 24. August 1999 sendet Palacios seine letzte Botschaft aus Madrid, dieses Mal mit ermutigenderen Mitteilungen.

Christian!

Ausstehende Ergebnisse des anderen Zentrums (er bezieht sich auf Barcelona) erhalten; alles negative Befunde, siehe Anlage.

Das von hier steht noch aus bis morgen nachmittag. Es ist das gleiche zu erwarten.

Ich komme am Donnerstag zurück wie vorgesehen.

Gruß

Miguel

P.S. War dein Anruf ein R-Gespräch? Du kannst dieses FAX mit ja oder nein beantworten. Danke.



Am 26. August fliegt Palacios nach Kuba zurück, dieses Mal mit einer Ladung unwiderlegbarer Dokumente. Nur er kannte das, was mit schmerzlicher Ungeduld erwartet wurde: das Ergebnis der im Laboratorium in Madrid analysierten Proben. Mit überaus starken Kopfschmerzen kam er in der Nacht an. Er fuhr gleich nach Hause. Er übermittelte eine Nachricht an das INDER, in der er seine Ankunft meldete. Keiner hat sie weitergeleitet, oder keiner hat ihr auch nur die geringste Aufmerksamkeit geschenkt. Was war da schon wichtiges dabei, wenn ein Herr namens Palacios angekommen war? Dieser Donnerstag, der 26. August, war ein Tag voller beklemmender Ungeduld. In Houston wurde die Boxweltmeisterschaft entschieden, und man hatte überhaupt kein Vertrauen zu den Punktrichtern. Wir mußten das Urteil der Mafia abwarten. Dort gab es keinen INDER-Vertreter, nichts. Ob aus Eifer oder Patriotismus, aller Augen waren auf die Fernsehgeräte gerichtet. Am Freitag, den 27. August, war alle Welt in Aufregung, in gerechter und gesteigerter Entrüstung darüber, was sie in jenem Ring gesehen hatten. Niemand dachte an Palacios.

Am Samstag, den 28. August, telephonierte Christian ungefähr um 12.00 Uhr mittags mit dem Hotel in Madrid und erkundigte sich nach Palacios. "Er ist nicht im Hotel. Er ist vor zwei Tagen abgereist", hieß es. Er rief die Botschaft an, keiner meldete sich. Einige Stunden lang waren wir besorgt. 'Ist er vielleicht entführt worden?' 'Haben sie ihn etwa verschwinden lassen?' 'Was er bei sich hatte, war ein dickes Ding.'

Um 20.30 Uhr, Beratung zur Podiumsdiskussion am Folgetag in beiden Fernsehkanälen unter Anwesenheit von Journalisten, Boxern und Trainern, die gerade erst aus Texas zurückgekehrt waren. Zehn oder zwölf Personen standen wir in einem Vorraum. Ich sehe Christian einige Schritte von mir entfernt, blicke ihn fragend an, und er lächelt mir zu. Ich trete näher, und er sagt leise zu mir: "Palacios ist am Donnerstag zurückgekehrt. Er hat alle Dokumente bei sich." Verblüffend!

Am Sonntag, den 29. August, um 15.50 Uhr, geht die Podiumsdiskussion über Houston zu Ende. Erst dann konnten wir uns mit Palacios befassen. Versammlung um 17.00 Uhr im Palacio de la Revolución. Neun Stunden lang analysierten wir mit den Hauptautoren dieser Geschichte den Zündstoff, den wir in der Hand hielten.

Montag, 30. August. Anerkennungsschreiben an die iberischen Laboratorien. Jetzt stecken wir zutiefst in einem großen Thema drin. Wir können dazu nicht ausführlicher werden. Es kann zu Polemiken kommen, und es ist nicht angebracht, dem Gegner Informationen zu liefern, die er in diesem Augenblick verzweifelt begehrt. Wir können nicht alle Karten auf den Tisch legen und nicht alle Munitionen verschießen. Auch werden wir die Codes nicht entschlüsseln. Es sind Flaschen mit 75 cc Urin dabei, die in diesem Moment mehr wert sind als eine Tonne Gold. Außerdem haben wir Reserven. Die Gewichtheber unserer Nationalmannschaft, junge, gesunde und moralisch einwandfreie Männer, können, wenn es die Umstände erfordern, so viele Proben liefern wie nötig sind.

Wäre das Nandrolon, das sie anführen, um uns die Medaillen zu entreißen, Wochen oder sogar Monate vor den Wettkämpfen der Panamerikanischen Spiele injiziert worden, so befände es sich immer noch im Körper jener Sportler und es stünde genügend Zeit zur Verfügung, um die nötige Anzahl Proben zu entnehmen.

Am Lächeln Christians an dem Abend, da das Geheimnis des Verschwindens von Palacios gelüftet wurde, konnte ich erraten, was geschehen war: das Ergebnis der Laboranalysen von Madrid, das Palacios in seinem saftigen Aktenkoffer mitgebracht hatte und das er in den Tagen, an denen keiner wußte, an welchem Ort der Welt er sich aufhielt, nicht aus der Hand gab. Seinerseits war es eine Grausamkeit, das Ende des ängstlichen und angespannten Wartens noch um 48 Stunden hinauszuzögern. Auch hier alles mit negativem Befund. Bei den von drei Labors analysierten 20 Proben erwähnt nicht einer der Berichte das Auftreten von Nandrolon oder dessen Metaboliten, nicht ein einziger Sportler unseres Gewichtheberteams war gedopt. Es war alles eine kolossale Lüge, ein infamer und schändlicher Betrug, ein verbrecherischer Entzug von Verdiensten, die mit Selbstlosigkeit, Ausdauer, Aufopferung und Opfern erzielt wurden.

Was unglaublich, ein Traum, ein Unmögliches, ein Wunder schien, hatte sich erfüllt. Deshalb konnte ich am Sonntag nach der Podiumsdiskussion interessante Mitteilungen ankündigen.

Um mit dem Vokabular des Sports zu sprechen, im Baseball hieße es ein no hit, no run; Im Boxsport würde man sagen, daß alle Punkte übereinstimmend waren und kein Richter dagegen stimmte. Der Sieger in der roten Ecke: Kuba, zwanzig zu null.

Wir wissen, wo sie versuchen werden zu widersprechen. Doch wir sind ruhig, denn alles ist unter Kontrolle.

Mir bleiben nur noch die Schlußforderungen, die ich kurz und zusammengefaßt später vorbringen werde. Ich gebe jetzt das Wort weiter an die, die eine gleichermaßen unwiderlegbare Zeugenaussage zu machen haben, und darüber hinaus die biochemischen Analysen, die die Aussagen vervollständigen werden.