Donnerstag, 14. Januar 2010

Die Lehre von Haiti

Reflexionen des Genossen Fidel: Die Lehre von Haiti


Vor zwei Tagen, es war spät am Nachmittag nach kubanischer Zeit und aufgrund der geografischen Lage in Haiti dort schon abends, strahlten die Fernsehsender erste Nachrichten über ein gewaltiges Erdbeben mit einer Stärke von 7,3 auf der Richter-Skala aus, das Port-au-Prince schwer getroffen hat. Das seismische Phänomen rührte aus einer tektonischen Verwerfung unter dem Meer her, nur 15 Kilometern von der haitianischen Kapitale entfernt, einer Stadt in der 80 Prozent der Bevölkerung labile Behausungen aus Lehmziegeln und Stampflehm bewohnen.

Die Meldungen setzten sich fast ohne Unterbrechung über Stunden hinweg fort. Es gab keine Bilder, aber es wurde berichtet, dass viele öffentliche Gebäude – Krankenhäuser, Schulen und weitere solide gebaute Einrichtungen – eingestürzt seien. Ich habe gelesen, dass ein Erdbeben einer Größenordnung von 7,3 der Energie entspricht, die bei der Explosion von 400 Tausend Tonnen TNT freigesetzt wird.

Es wurden tragische Berichte publik. Die Verletzten in den Straßen riefen inmitten von Ruinen, unter denen ganze Familien begraben waren, nach medizinischer Hilfe. Unterdessen hatte es viele Stunden lang niemand vermocht, auch nur ein Bild zu übertragen.

Die Nachricht hat uns alle überrascht. Wir hatten häufig Informationen über Hurrikans und große Überschwemmungen in Haiti erhalten, wussten aber nicht, dass dem Nachbarland die Gefahr eines großen Erdbebens drohte. Nun wurde bekannt, dass sich bereits vor 200 Jahren ein großes Beben in dieser Stadt ereignet hatte, die damals sicherlich nur ein paar Tausend Einwohner beherbergte.

Um Mitternacht wurden immer noch keine ungefähren Opferzahlen genannt. Hochrangige Vertreter der Vereinten Nationen und verschiedene Regierungschefs sprachen von bewegenden Geschehnissen und kündigten die Entsendung von Rettungsbrigaden an. Weil vor Ort Truppen der MINUSTAH (Stabilisierungsmission der Vereinten Nationen für Haiti), also UNO-Kräfte aus verschiedenen Ländern, stationiert sind, sprachen einige Verteidigungsminister von möglichen Verlusten unter ihrem Personal.

Es war tatsächlich erst am gestrigen Mittwochmorgen, als erste traurige Meldungen über enorme Opferzahlen eintrafen und sogar Institutionen wie die Vereinten Nationen mitteilten, dass einige ihrer Gebäude im Land eingestürzt waren. Ein Wort, das für sich genommen nichts aussagt, zugleich aber so viel bedeuten kann.

Viele Stunden lang trafen stetig immer traumatischere Meldungen über die Situation in diesem Bruderland ein. Es wurden Zahlen von Todesopfern erörtert, die, je nach Version, zwischen 30.000 und 100.000 schwanken. Die Bilder sind erschütternd. Offenkundig hat das verheerende Ereignis weltweit große Verbreitung gefunden und viele Regierungen unternehmen, aufrichtig berührt, Bemühungen, um gemäß der ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln ihren Beitrag zu leisten.

Die Tragödie bewegt auf ehrliche Weise eine große Zahl von Menschen. Aber vielleicht nur sehr wenige halten sich mit dem Gedanken darüber auf, warum Haiti ein so armes Land ist. Warum ist seine Bevölkerung zu fast 50 Prozent von den Überweisungen Verwandter abhängig, die im Ausland leben? Warum analysiert man nicht auch die realen Umstände, die zur aktuellen Lage Haitis und zu seinen enormen Leiden geführt haben?

Das merkwürdigste an dieser Geschichte ist, dass niemand auch nur in einem Wort daran erinnert, dass Haiti das erste Land gewesen ist, in dem sich 400.000 von den Europäern versklavte und verschacherte Afrikaner gegen 30.000 weiße Eigentümer von Zuckerrohr- und Kaffeeplantagen erhoben und damit die erste große soziale Revolution unserer Hemisphäre durchgeführt haben. Dort wurden Kapitel von unübertrefflichem Ruhm geschrieben. Der namhafteste General Napoleons wurde vernichtend geschlagen. Haiti ist ein reines Produkt des Kolonialismus und des Imperialismus, ein Produkt des Jahrhunderte währenden Missbrauchs seiner Menschen für die härtesten Arbeiten, ein Produkt von Militärinterventionen und der Ausbeutung seiner Reichtümer.

Dieses historische Vergessen wäre nicht so schwerwiegend wie die reale Tatsache, dass Haiti eine Schande für unsere Epoche darstellt – in einer Welt, in der die Ausbeutung und Ausplünderung über die immense Mehrheit der Bewohner des Planeten herrscht.

Milliarden von Menschen in Lateinamerika, Afrika und Asien leiden unter ähnlichem Mangel, auch wenn dies vielleicht nicht alle in einem solchen Maß betrifft wie in Haiti.

Situationen wie in diesem Land dürften an keinem Ort der Erde existieren, wo es aufgrund einer aufgezwungenen, ungerechten internationalen wirtschaftlichen und politischen Ordnung zehntausende von Städten und Ortschaften mit ähnlichen und manchmal noch schlimmeren Bedingungen gibt. Die Weltbevölkerung ist nicht nur von Naturkatastrophen wie in Haiti bedroht, die nur ein bleicher Schatten sind von dem, was auf dem Planeten im Zuge des Klimawandels geschehen kann, der in Kopenhagen Ziel von Hohn, Spott und Täuschung geworden ist.

Es ist nur gerecht gegenüber allen Ländern und Institutionen, die aus Anlass der Naturkatastrophe in Haiti Staatsbürger oder Mitglieder verloren haben, folgendes erklären: Wir hegen keinen Zweifel daran, dass sie in diesem Augenblick die größten Anstrengungen unternehmen werden, um Menschenleben zu retten und um den Schmerz dieses leidgeprüften Volkes zu lindern. Wir können sie nicht für das Naturphänomen verantwortlich machen, doch wir sind auch nicht mit der Politik einverstanden, die gegenüber Haiti verfolgt wurde.

Dabei ist es höchste Zeit, reale und wahrhaftige Lösungen für dieses Brudervolk zu suchen.

Auf dem Gebiet der Gesundheit und in anderen Bereichen arbeitet Kuba, obwohl es ein armes Land unter einer Blockade ist, seit Jahren mit dem haitianischen Volk zusammen. Rund 400 Ärzte und Spezialisten aus dem Gesundheitswesen offerieren dem haitianischen Volk unentgeltliche Dienste. In 227 der 337 Gemeinden des Landes arbeiten Tag für Tag unsere Ärzte. Zugleich sind nicht weniger als 400 junge Haitianer in unserer Heimat als Ärzte ausgebildet worden. Sie werden jetzt mit den Verstärkungskräften zusammenarbeiten, die gestern aufbrachen, um in dieser kritischen Situation Leben zu retten. Infolge dessen können ohne besonderen Aufwand bis zu Tausend Ärzte und Gesundheitsspezialisten mobilisiert werden, die bereits fast alle vor Ort und dazu bereit sind, mit jedem anderen Staat zusammen zu arbeiten, der haitianische Leben retten und Verletzte behandeln möchte.

Eine weitere nennenswerte Zahl von jungen Haitianern befindet sich zum Medizinstudium in Kuba.

Außerdem arbeiten wir mit dem haitianischen Volk auch in anderen Bereichen zusammen, die in unseren Möglichkeiten stehen. Trotzdem wird es, wenn man es so nennen will, darüber hinaus keine würdigere Form der Zusammenarbeit geben als mit Ideen und politischem Handeln für ein Ende der grenzenlosen Tragödie zu kämpfen, unter der eine große Zahl von Nationen ebenso wie Haiti leidet.

Die Leiterin unserer Ärztebrigade hat vermeldet: "Die Situation ist schwierig, aber wir haben bereits damit begonnen, Leben zu retten". Sie tat dies in einer knappen Botschaft, wenige Stunden nachdem sie gestern mit zusätzlichen ärztlichen Verstärkungskräften in Port-au-Prince angekommen ist.

Spät am Abend teilte sie dann mit, dass die kubanischen Ärzte und die an der ELAM (Lateinamerikanische Medizinhochschule) in Havanna ausgebildeten Haitianer in alle Teile des Landes aufbrechen. Sie hatten in Port-au-Prince bereits mehr als Tausend Patienten behandelt, nachdem sie ein Hospital, das nicht eingestürzt war, als Notkrankenhaus in Funktion gesetzt und Zelte aufgebaut hatten, wo dies nötig war. Sie waren auch dabei, rasch weitere Notfallzentren einzurichten.

So empfinden wir einen gesunden Stolz auf die Hilfe, die die kubanischen Ärzte und die jungen in Kuba ausgebildeten haitianischen Ärzte ihren Brüdern in Haiti leisten!


Fidel Castro Ruz

14.Januar 2010
20.25 Uhr

Übersetzung von amerika21.de

1 Kommentar:

Andreas Johannes Berchtold hat gesagt…

Die erste Version des Artikels gefiel mir besser, weil dieser bewusst machende Satz darin enthalten war:

Die Tragödie erschüttert viele Menschen guten Glaubens, besonders jene natürlichen Charakters.

Man kann die Frage stellen, wer Fidel Castro und amerika21.de nun dazu gebracht hat eine derartig auffällige Bewusstsein nehmende Änderung vorzunehmen und vor allem warum.

Wenn man den vorhergehenden Artikel Castros liest und meinen Kommentar dazu, dann wird das schon deutlicher.

Aber was soll das?

Es geht doch darum Bewusstsein zu schaffen, um Veränderung zu ermöglichen und nicht darum, unangebrachte Schuldgefühle zu entwickeln und neurotisch zu reagieren.

Die apokalyptische Ölindustrie wurde vom Kapitalismus aufgezwungen und dieses schwere Erbe wurde von den sozialistischen Ländern Lateinamerikas übernommen, geht ja erst mal nicht anders - es gilt aber doch die apokalyptische Industrie zurück zu drängen durch Umstieg auf Elektrotechnologien, zum Schutz der Erde und für Sicherheit und Frieden ihrer Menschheit durch Unabhängigkeit von der apokalyptischen Industrie.

China hat das erste alltagstaugliche, emissionsfreie Auto in den Markt gebracht, den BYD e6 (Build your dreams, Verwirkliche deine Träume): Jetzt muss global die Infrastruktur für diese Autos gefordert und ausgebaut werden.

Das ist die friedliche industrielle Revolution auf welche die Menschheit gewartet hat - an der sich jeder beteiligen kann.

Für eine angenehme Zukunft
Andreas Johannes Berchtold, Wuppertal