Montag, 27. Dezember 2010

Der Kampf gegen die Cholera

Reflexionen des Genossen Fidel: Der Kampf gegen die Cholera

Ich mache eine kurze Pause inmitten vieler wichtiger Analysen, die mich in diesen Tagen beschäftigen, um über zwei Themen zu sprechen, die unser Volk kennen soll.

Die UNO, angestiftet von den Vereinigten Staaten, dem Verantwortlichen für die Armut und das Chaos in der haitianischen Republik, hatte beschlossen, ihrer Besatzungstruppe, d.h. die MINUSTAH (UN-Mission zur Stabilisierung Haitis), ins haitianischen Hoheitsgebiet zu senden, die, nebenbei bemerkt, die Choleraepidemie in diesem Land eingeführt hat.

Der Generalsekretär der OAS hat seinerseits Anfang 2009 entschieden, Ricardo Seitenfus, einen brasilianischen Intellektuellen und zu jener Zeit Mitarbeiter des Außenministeriums seines Landes, als seinen persönlichen Beauftragten in Haiti zu ernennen.

Seitenfus hatte aufgrund der ernsten und offenen Art und Weise, mit der er die Probleme behandelte, ein verdientes Ansehen in den diplomatischen und Regierungskreisen der Hauptstadt von Haiti. Im Jahr 1993 hatte er ein Buch mit dem Titel „Haiti: die Souveränität der Diktatoren“ geschrieben. In jenem Jahr besuchte er Haiti zum ersten Mal.

Vor zwei Tage, am 25. Dezember, veröffentlichten die Informationsagenturen die Nachricht, dass der Sonderbeauftragte der OAS plötzlich abgesetzt worden war.

Was hat diese drastische Maßnahme verursacht?

Bei einem Interview für die Zeitung Le Temps vor mehrere Tage in der Schweiz beantwortete Seitenfus mehrere Fragen dieser Zeitung und legte seine Standpunkte ehrlich dar.

Ganz kurz aber wortwörtlich werde ich anhand der Internetinformationen und der Übersetzung aus dem Französischen erklären, was geschehen war.

Die erste Frage von Le Temps war:

„Zehntausend Blauhelme in Haiti sind Ihrer Meinung nach eine kontraproduktive Präsenz?“

Antwort von Ricardo Seitenfus:

“Das Präventivsystem für Streitigkeiten im Rahmen des UNO-Systems passt nicht zum haitianischen Kontext. Haiti ist keine internationale Bedrohung. Wir befinden uns nicht in der Situation eines Bürgerkriegs. […] Der Sicherheitsrat […] hat im Jahr 2004 nach dem Abgang des Präsident Aristide die Blauhelme aufgezwungen. […] Für die UNO ging es darum, die Macht einzufrieren und die Haitianer zu Gefangene in ihrer eigenen Inseln zu machen.“

Zweite Frage.

„Was verhindert die Normalisierung der haitianischen Lage?

"Ricardo Seitenfus: Zweihundert Jahre lang haben sich die Anwesenheit der ausländischen Truppen und der Diktatoren abgewechselt. Die Gewalt und nicht der Dialog definieren die internationalen Beziehungen mit Haiti. Die Erbsünde von Haiti auf der Weltbühne ist seine Befreiung. Die Haitianer begingen etwas Unannehmbares im Jahr 1804: ein Majestätsverbrechen für eine ungeduldige Welt. Der Westen war zu jener Zeit eine kolonialistische, die Sklaverei befürwortende und rassistische Welt, deren Reichtum sich auf der Ausbeutung der eroberten Länder begründete. Deswegen machte das haitianische revolutionäre Vorbild den Großmächten Angst. Die Vereinigten Staaten erkannten die Unabhängigkeit Haitis erst im Jahr 1865 an, und Frankreich forderte die Zahlung eines Lösegeldes, um diese Befreiung zu akzeptieren. Von Anfang an war die Unabhängigkeit gefährdet und die Entwicklung des Landes behindert. […] Nichts wird gelöst, alles wird schlimmer. Sie wollen Haiti in ein kapitalistisches Land umzuwandeln, in einer Exportplattform für den US-amerikanischen Markt. Das ist widersinnig. […] In dieser Gesellschaft gibt es Elemente, die verhindern haben, dass die Gewalt sich maßlos ausbreitet.“

Dritte Frage

„Ist es nicht eine Abtretung, in Haiti eine nicht assimilierbare Nation zu sehen, deren einzige Zukunft die Rückkehr zu traditionellen Werten ist?"

„Ricardo Seitenfus: Ein Teil von Haiti ist modern, städtisch und auf das Ausland ausgerichtet. Die Zahl der im Ausland lebenden Haitianer wird auf vier Millionen geschätzt. Es ist ein zur Welt offenes Land. […] Über 90% des Bildungssystems und des Gesundheitswesens liegen in privaten Händen. Das Land verfügt über keine öffentlichen Mittel, um ein offizielles System auf minimalem Niveau im Gang zu setzen. […] Das Problem liegt im sozioökonomischen Bereich. Wenn die Arbeitslosigkeitsrate 80% beträgt, ist es untragbar, eine Stabilisierungsmission zu entfalten. Es gibt nichts zu stabilisieren …”

Vierte Frage

„Haiti ist eins der Länder mit der meisten Hilfe aus der Welt, dennoch verschlechtert sich die Lage seit fünfundzwanzig Jahren. Warum?"

„Ricardo Seitenfus: Die Nothilfe ist wirksam; aber wenn sie strukturell wird, wenn sie den Staat in allen seinen Aufgaben ersetzt, kommt es zu einem Fehlen kollektiver Verantwortung. […] Das Erdbeben vom 12. Januar und später die Cholera-Epidemie haben nichts weiter getan, als dieses Phänomen zu verschärfen. Die internationale Staatengemeinschaft hat das Gefühl, dass jeden Tag noch einmal gemacht werden muss, was am Vorabend beendet wurde. […] Ich hatte die Hoffnung, dass die Welt angesichts des Unglücks vom 12. Januar verstehen würde, dass sie sich mit Haiti geirrt hat. […] Statt eine Bilanz zu ziehen, sind noch mehr Soldaten gesandt worden. Es müssen Landstraßen gebaut, Staudämme errichtet werden, es muss beigetragen werden zur Organisierung des Staates, des Justizsystems. Die UNO erklärt, sie habe kein Mandat dafür. Ihr Mandat in Haiti lautet, den Friedhofsfrieden zu erhalten.”

Fünfte Frage

„Welche Rolle spielen die NROs bei diesem Scheitern?"

„Ricardo Seitenfus: Ab dem Erdbeben hat sich Haiti in einen unvermeidlichen Scheideweg verwandelt. Für die transnationalen NROs ist Haiti zu einer Zwangsdurchgangsstätte geworden. Ich würde sogar etwas noch schlimmeres sagen: eine Berufsausbildungsstätte. […] Es besteht ein schädliches bzw. ruchloses Verhältnis zwischen der Macht der NROs und der Schwäche des haitianischen Staates. Einige NROs haben ihr Bestehen dem haitianischen Unglück zu verdanken.”

Sechste Frage

„Welche Fehler sind nach dem Erdbeben begangen worden?"

„Ricardo Seitenfus: Wegen des massiven Imports von Konsumgütern für die Ernährung der Obdachlosen hat sich die Lage der haitianischen Landwirtschaft verschlechtert. Das Land bietet ein freies Feld für alle humanitären Erfahrungen. Es ist vom moralischen Standpunkt aus unannehmbar, Haiti als ein Labor zu betrachten. Der Wiederaufbau von Haiti und das von uns betonte Versprechen der 11 Milliarden Dollar erwecken die Habzucht. […] Die von Kuba ausgebildeten haitianischen Ärzte, […] ungefähr die Hälfte […], die in Haiti sein sollten […] arbeiten zurzeit in den USA, in Kanada oder in Franckreich.”

Siebte Frage

„Haiti wird unaufhörlich als der Rand der Welt beschrieben. Sehen Sie das Land als ein Konzentrat unserer zeitgenössischen Welt …?

„Ricardo Seitenfus: Es ist das Konzentrat unserer Dramen und der Misserfolge der internationalen Solidarität. Wir sind nicht auf der Höhe der Herausforderung. Die internationale Presse kommt nach Haiti und beschreibt das Chaos. […] Für sie ist Haiti eins der schlimmsten Länder der Welt. Es ist erforderlich, in die haitianische Kultur einzudringen, sich in das Heimatland zu versetzen. […] Niemand nimmt sich die Zeit und hat nicht die Lust, das zu verstehen, was ich die haitianische Seele nennen würde.”

Achte Frage

„Neben dem Eingeständnis des Misserfolgs, welche Lösungen schlagen Sie vor?

„Ricardo Seitenfus: In zwei Monaten werden ich einen zweijährigen Einsatz in Haiti abgeschlossen haben. Um hier zu bleiben und mich nicht von dem, was ich sehe, bedrückt zu fühlen, musste ich mir eine Reihe psychologischer Abwehrmechanismen schaffen. Trotz des Gewichts der Organisation, die ich vertrete, wollte ich eine unabhängige Stimme bleiben. […] Am 12. Jaguar lernte ich, dass ein außerordentliches Solidaritätspotential in der Welt steckt. Und es ist notwendig, nicht zu vergessen, dass es in den ersten Tagen die Haitianer selbst waren, die mit leeren Händen versuchten, ihren Nächsten zu retten. […] Wir sollten gleichzeitig daran denken, Haiti Export-Möglichkeiten zu bieten und auch diese landwirtschaftliche Produktion, die von Familien betrieben wird, zu schützen, weil sie für das Land wesentlich ist. Haiti ist, mit 1.700 Kilometern unberührter Küste, das letzte touristisch unerschlossene Paradies der Karibik […] Vor 200 Jahren hat Haiti die Geschichte der Menschheit und der Menschenrechte erleuchtet. Es ist jetzt erforderlich, den Haitianern eine Chance zu geben, ihre Vision zu bestätigen.”

Man kann mit den verschiedenen Aussagen des Brasilianers Ricardo Seitenfus einverstanden sein, oder nicht, aber es ist unbestreitbar, dass er in seinen Antworten lapidare Wahrheiten äußerte.

Ich halte es für angebracht, Folgendes anzufügen und zu erklären:

Unser Land hat nicht nur Hunderte von Ärzten in das benachbarte Bruderland Haiti, sondern auch Tausende von ihnen in anderen Länder der Dritten Welt geschickt, insbesondere in Notsituationen wegen Naturkatastrophen, und hat bei der Ausbildung von Zehntausenden Ärzte sowohl in unserem Land, als auch im Ausland, beigetragen.

Die medizinische Zusammenarbeit mit Haiti hat vor 12 Jahren, am 4. Dezember 1998, begonnen.

Als Ende der 90er Jahre die Tyrannei von Duvalier und der Tonton Macoutes ― die jahrzehntelang von den USA auferlegt wurde― aufhörte zu bestehen und eine vom Volk gewählte Regierung die Leitung von Haiti übernahm, entsandte Kuba 100 Ärzte, um in diesem Land Dienste zu leisten. Das erste Kontingent von jungen haitianischen Abiturienten reiste 1999 zur Aufnahme des Studiums nach Kuba.

2001 begannen wir eine Zusammenarbeit mit der vom Präsident Jean Bertrand Aristide gegründeten Medizin-Universität, zu der wir Dozenten schickten, die auch als Ärzte im Dienste des haitianischen Volkes arbeiteten. Als die Yankees einen Putsch auslösten und die Medizinschule von den Putschisten in Kaserne verwandelt wurde, kamen ca. 270 Studenten dieser Schule mit den Dozenten nach Kuba und setzten ihr Studium in unserem Vaterland fort.

Die kubanische Medizinische Mission leistete dennoch ihre humanitären Dienste in Haiti weiter, welche nichts mit den internen politischen Problemen des Landes zu tun hatten, das von den Putschisten-Soldaten, den Yankee-Truppen oder den Kräften der MINUSTAH besetzt war.

Im August 2005 kehrten die ersten 128 haitianischen Medizin-Studenten des 6. Studienjahres zum Lehrpraktikum in ihr Land zurück und gesellten sich zu den kubanischen Ärzten, die ihre Leistungen in Haiti erbrachten.

Seit dem zweiten Halbjahr 2006 bis zum zweiten Halbjahr 2010 haben 625 junge haitianische Ärzte ihr Studium absolviert, von denen wir die höchste Meinung haben. Von ihnen arbeiten 213 in den medizinischen Einrichtungen der Regierung von Haiti; 125 in den medizinischen Cholera-Kontrollzentren oder in den Brigaden, die in den kleinere Gemeinden die Kranken aufsuchen, zusammen mit kubanischen Ärzten und lateinamerikanischen Absolventen der ELAM (Lateinamerikanische Medizinschule), die die Cholera-Epidemie bekämpfen; 72 sind in ärztlichen Einrichtungen der NROs und in privaten Praxen tätig; 20, in den so genannten „gemischten Zentren“; 41 studieren ein zweite Fachspezialität in Kuba; 27 weitere junge Absolventen befinden sich bereits in Haiti und warten auf ihre Anstellung; 14 haben wegen persönlicher Umstände wie Schwanger- und Mutterschaft kein Arbeitsverhältnis; von anderen vier ist deren Verbleib unbekannt und einer verstarb.

Schließlich arbeiten 104 im Ausland, hauptsächlich in Spanien, den USA, Kanada und Frankreich; einer in der Schweiz und vier in lateinamerikanischen Ländern. Es wäre nicht korrekt, über einen von ihnen zu urteilen, weil ihr Land äußerst arm ist. Es mangelte an Ressourcen und Arbeitsplätzen und es ist absolut nicht belegt, dass einer von ihnen sich verweigert hätte, seinem Land zu dienen. Es handelt sich um sehr gefragte ärztliche Werte, die in Haiti und Kuba entstanden sind.

Die offizielle Zahl der Verstorbenen an Cholera beträgt 2.707, das ergibt eine Rate von 2,1%.

Während drei aufeinander folgenden Tagen ist kein einziger der von der Kubanischen Medizinischen Mission behandelten Cholera-Kranken gestorben. Die Letalitätsrate ist unter den 47.537 von ihnen behandelten Patienten schon auf 0,57 gesunken. Die Epidemie kann beseitigt, und somit vermieden werden, dass sie endemisch wird.

Im morgigen Podiumsgespräch um achtzehn Uhr werden wir frische und interessante Nachrichten über den Kampf gegen die Cholera in Haiti und Stimmen mit wichtigen Berichten und Autorität in diesem Thema hören.

Ich werde am Dienstag, dem 28., mit dem zweiten Punkt fortfahren.


Fidel Castro Ruz

27. Dezember 2010
17:12 Uhr

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