Mittwoch, 18. Juni 2008

Die Ameise und der Elefant

Reflexionen des Genossen Fidel: Die Ameise und der Elefant

Man könnte glauben, dass es nach dem TV-Podiumsgespräch vom 12. Juni - welches die Neuausgabe eines vor 15 Jahren in Bolivien veröffentlichten Buches bekannt gab, das jetzt mit einem von mir verfassten Vorwort erscheint - kein Thema geben würde, dass einen Kommentar wert wäre ohne die geduldigen Leser zu ermüden. Während dieses Programms wurde eine später vom Präsidenten Evo Morales verfasste Einführung vorgelesen und eine Botschaft der angesehenen argentinischen Schriftstellerin Stella Calloni, welche in die nächste Ausgabe aufgenommen werden. Ich habe die in jenem Vorwort verwendeten Angaben sorgsam ausgewählt.

Schon seit den ersten Jahren der Kubanischen Revolution entwickelte sich ein starker internationalistischer Geist, der seinen Ursprung in der zahlenmäßig großen Gruppe von Kubanern hatte, die am antifaschistischen Kampf des spanischen Volkes teilgenommen hat und die besten Traditionen der Arbeiterbewegung der Welt ihr eigen machte.

Wir verbreiten für gewöhnlich unsere Kooperation mit anderen Völkern nicht, obwohl es auch keine Möglichkeit geben würde zu verhindern, dass die Presse manchmal hierüber berichtet. Diese Zusammenarbeit beruht auf tief greifenden Gefühlen, die nichts mit Publicity zu tun haben.

Manche werden sich fragen, wie es möglich ist, dass ein kleines Land mit wenigen Ressourcen eine Aufgabe solcher Größenordnung auf solch entscheidenden Gebieten wie Bildung und Gesundheitswesen durchführen kann, ohne welche die jetzige Gesellschaft nicht denkbar ist.

Der Mensch hat die unabdingbaren Güter und Dienstleistungen geschaffen, seitdem er in Gesellschaft lebt, und diese hat sich über einen Zeitraum von vielen tausenden Jahren von den elementarsten bis zu den fortgeschrittensten Formen entwickelt.

Die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen war eine untrennbare Begleiterin jener Entwicklung, wie wir alle wissen bzw. wissen sollten.

Die Unterschiede bei der Art und Weise zur Wahrnehmung dieser Realität hingen immer davon ab, welche Stellung jeder Einzelne in der Gesellschaft einnahm. Man sah es als etwas Natürliches an und der riesigen Mehrheit war es nie bewusst.

Während der Blütezeit des Kapitalismus in England, das zusammen mit den Vereinigten Staaten und anderen Ländern Europas in der schon vom Kolonialismus und Expansionsdrang beherrschten Welt zu dessen Avantgarde gehörte, hat ein großer Denker und Gelehrter der Geschichte und der Ökonomie, Karl Marx, ausgehend von den Ideen der angesehensten deutschen und englischen Philosophen und Ökonomen der Epoche – darunter Hegel, Adam Smith und David Ricardo, mit denen er nicht übereinstimmte – im Jahr 1859 seine Ideen über die Produktions- und Austauschverhältnisse im Kapitalismus unter dem Titel Zur Kritik der Politischen Ökonomie erarbeitet, verfasst und veröffentlicht. Im Jahr 1867 führte er diese Verbreitung seiner Ideen mit dem ersten Band seines Meisterwerks fort, dass ihn berühmt gemacht hat: Das Kapital. Der größte Teil seines umfangreichen Buches wurde ausgehend von seinen Bemerkungen und Aufzeichnungen von Engels herausgegeben, welcher seine Ideen teilte und nach Marx Tod 1883 dessen Werk wie ein Prophet verbreitete.

Das von Marx selbst Veröffentlichte stellt die ernsthafteste Analyse überhaupt dar, die jemals über die Klassengesellschaft und die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen geschrieben wurde. So entstand der Marxismus, der die Grundlage der revolutionären Parteien und Bewegungen war, welche den Sozialismus als Zielstellung ausriefen, darunter fast alle sozialdemokratischen Parteien, welche bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges die von Marx und Engels im 1848 zum ersten Male veröffentlichten Kommunistischen Manifest aufgestellte Losung “Proletarier aller Länder, vereinigt euch!” verrieten.

Eine derjenigen Wahrheiten, welche der große Denker wörtlich so einfach ausdrückte, ist folgende: In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt. Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen … Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein… Eine Gesellschaftsformation geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist, und neue höhere Produktionsverhältnisse treten nie an die Stelle, bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoß der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind.

Ich könnte jene klar und genau von Marx formulierten Konzepte nicht mit anderen Worten so ausdrücken, dass sogar einer jener jungen Kubaner, die am vergangenen 14. Juni in die Reihen der Kommunistischen Jugend aufgenommen wurden, mit einer einfachen Erläuterung seiner Lehrer deren Wesen verstehen kann.

Über den konkreten Ablauf des Klassenkampfes hat Marx Der Klassenkampf in Frankreich von 1848 bis 1850 und Der 18. Brumaire von Luis Bonaparte geschrieben, zwei ausgezeichnete Geschichtsanalysen, welche jeden Leser ergötzen. Er war ein echtes Genie.

Lenin, tiefgründiger Nachfolger des dialektischen Denkens und der Forschungen von Marx, schrieb zwei Hauptwerke: Staat und Revolution und Der Imperialismus als höchste Stufe des Kapitalismus. Die Ideen von Marx, die durch ihn mit der Oktoberrevolution in die reale Praxis umgesetzt wurden, sind ebenfalls von Mao Tse Tung und anderen revolutionären Führern der Dritten Welt weiterentwickelt worden. Ohne sie wäre auch die Kubanische Revolution im Hinterhof der Vereinigten Staaten nicht ausgebrochen.

Wenn die marxistische Denkweise sich einfach auf die Idee beschränkt hätte, dass “eine Gesellschaftsformation nie untergeht, bevor nicht alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist“, dann hätte der Theoretiker des Kapitalismus Francis Fukuyama Recht gehabt, als er die Auflösung der UdSSR als das Ende der Geschichte und der Ideologien ankündigte und sagte, dass jeglicher Widerstand gegenüber dem kapitalistischen Produktionssystem aufhören müsse.

Zu jener Zeit, als der Gründer des wissenschaftlichen Sozialismus seine Ideen darlegte, stand den Produktivkräften noch ihre volle Entfaltung bevor, hatte die Technik noch nicht die tödlichen Massenvernichtungswaffen entwickelt, die in der Lage sind, die Ausrottung der menschlichen Gattung hervorzurufen; gab es keine Beherrschung des Weltalls, keine unbegrenzte Verschwendung von Erdöl und –gas und nicht erneuerbaren Energiequellen; war in einer Natur, die dem Menschen unendlich schien, weder der Klimawechsel bekannt, noch hatte sich eine Weltnahrungsmittelkrise eingestellt - Nahrungsmittel, die zwischen unzähligen Verbrennungsmotoren und einer sechs Mal größeren Bevölkerung als der Milliarde Erdbewohner in Marx Geburtsjahr geteilt werden müssen.

Die Erfahrung des sozialistischen Kuba findet zu einem Zeitpunkt statt, zu dem die imperiale Herrschaft sich auf den gesamten Erdball ausgeweitet hat.

Wenn ich von Bewusstsein spreche, dann beziehe ich mich nicht auf einen Willen, der bereit ist, die Realität zu verändern, sondern im Gegenteil, auf die Kenntnis der objektiven Wirklichkeit, welche die zu befolgende Handlungsweise bestimmt.

Es hatte Tote in zweistelliger Millionenhöhe gegeben in dem Krieg, der Mitte des 20. Jahrhunderts vom Faschismus provoziert wurde, der in den anti-marxistischen Eingeweiden des von Lenin vorausgesehenen entwickelten Kapitalismus entstand.

In Kuba – wie in anderen Ländern der Dritten Welt – haben sich der nationale Befreiungskampf unter Führung der kleinbürgerlichen Schichten und der mittelständischen Bourgeoisie und der Kampf, den die fortschrittlichsten Kräfte der Arbeiterklasse und der Bauern schon um den Sozialismus führten, summiert und gegenseitig verstärkt. Ebenso traten die ideologischen und Klassenwidersprüche zutage. Die objektiven und subjektiven Faktoren waren in den jeweiligen Prozessen sehr unterschiedlich.

Ausgehend vom letzten Weltkrieg waren die Vereinten Nationen und andere internationale Organismen entstanden, in denen Viele ein neues Bewusstsein auf dem Planeten sahen. Das war eine Täuschung.

Der Faschismus, dessen Instrument Hitler selbst Nationalsozialistische Partei nannte, ist mächtiger und bedrohlicher denn je wiedererstanden.

Das Imperium schickt Flugzeugträger auf alle Meere der Welt, um militärisch einzugreifen, und lässt sie dort stationiert. Was beschließt es, um mit Kuba im Gebiet unserer Hemisphäre zu konkurrieren? Es schickt ein riesiges, in ein schwimmendes Krankenhaus umgewandeltes Schiff, das in jedem Land zehn Tage arbeitet. Einer gewissen Anzahl Menschen kann geholfen werden, aber das ist weit davon entfernt, die Probleme eines Landes zu lösen. Dadurch können auch nicht der Brain Drain (Raub bzw. Abwerbung von hoch qualifizierten Fachkräften) aufgewogen bzw. die Fachleute ausgebildet werden, die das Land benötigt, um jeden Tag der Woche und des Jahres wirkliche medizinische Dienstleistungen zu gewährleisten. Wenn man alle Flugzeugträger zusammen genommen, die jetzt Instrumente zur militärischen Intervention auf den verschiedenen Ozeanen der Erde sind, in Krankenhäuser verwandeln würde, könnten sie nicht diese Dienste allen jenen Millionen Menschen bieten, welche die kubanischen Ärzte an abgelegenen Orten der Welt behandeln, wo Frauen gebären, Kinder geboren werden und es Kranke gibt, die dringlich einer Behandlung bedürfen.

Unser Land hat bewiesen, dass es jedem Druck standhalten und anderen Völkern helfen kann.

Ich habe über die Größenordnung unserer Zusammenarbeit nicht nur in Bolivien, sondern in Haiti, in der Karibik, in verschiedenen Ländern Zentral- und Südamerikas, in Afrika und sogar in dem 20 000 Kilometer entfernten Ozeanien nachgedacht. Ich habe mich ebenfalls an die Missionen der Brigade Henry Reeve bei schweren Katastrophenfällen erinnert, wobei diese in unseren eigenen Flugzeugen flog, wo sowohl das Personal als auch andere Ressourcen befördert wurden.

Das Ziel von jährlich einer Million kostenlos an den Augen Operierten in Lateinamerika und der Karibik, von dem wir sprachen, ist bald erreicht. Können es die Vereinigten Staaten etwa Kuba gleichtun?

Wir werden die Informatik nicht dazu nutzen, Massenvernichtungswaffen herzustellen und Menschenleben auszulöschen, sondern dazu, anderen Völkern Kenntnisse zu übermitteln. Vom wirtschaftlichen Standpunkt aus gesehen ermöglicht es uns die dank der Revolution erreichte Entwicklung der Intelligenzen und des Bewusstseins unserer Mitbürger nicht nur, jenen Völkern ohne jegliche Bezahlung zu helfen, die es am meisten benötigen, sondern ebenfalls spezielle Dienstleistungen in Länder mit mehr Ressourcen als unser Heimatland zu exportieren, einschließlich auf dem Gebiet des Gesundheitswesens. Auf diesem Gebiet werden die Vereinigten Staaten niemals mit Kuba konkurrieren können.

Unser kleines Land wird standhalten.

Kurz gesagt: Die Ameise war fähiger als der Elefant!


Fidel Castro Ruz

18. Juni 2008
19:35 Uhr

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