Donnerstag, 17. Juli 2008

Die Aufrichtigkeit und der Mut um bescheiden zu sein

Reflexionen des Genossen Fidel: Die Aufrichtigkeit und der Mut um bescheiden zu sein

Jedes Werk mit einer bestimmten autobiographischen Nuance zwingt mich dazu, Zweifel bezüglich jenen vor mehr als einem halben Jahrhundert von mir getroffenen Entscheidungen zu klären. Hierbei beziehe ich mich auf die subtilen Details, da man das Wesentliche niemals vergessen wird. Dies trifft auf das zu, was ich 1948 getan habe, das heißt vor sechzig Jahren.

Als ob es gestern gewesen wäre erinnere ich mich an jenen Augenblick, als ich beschloss, an der Expedition zur Befreiung des dominikanischen Volkes von der Trujillo-Tyrannei teilzunehmen. Ebenfalls ist mir jedes der transzendenten Ereignisse jenes Zeitabschnitts im Gedächtnis geblieben; mehrere Dutzend für mich unvergessliche Episoden, die ich das eine oder andere Mal behandelt habe. Viele von ihnen sind schriftlich festgehalten.

Ich könnte heute nicht mit vollkommener Sicherheit behaupten, dass, als ich mit der Idee nach Kolumbien reiste, die Gründung des Lateinamerikanischen Studentenverbandes zu fördern, zu meinen Zielstellungen konkret die Behinderung der Gründung der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) gehörte, die von den Vereinigten Staaten angestrengt wurde. Ich bin nicht sicher, dass ich zu jenem Zeitpunkt schon jene frühreife Ansicht erreicht hatte.

Ein außerordentlicher Historiker und Experte für die Details wie Arturo Alape, der mich 33 Jahre danach interviewte, gibt Antworten von mir wieder, in denen ich behaupte, dass diese Absicht zu den Zielstellungen meiner Reise nach Kolumbien im Jahr 1948 gehörte.

Germán Sánchez zitiert in seinem Buch Transparencia de Emmanuel wörtlich den Absatz von Alapes Interview: „In jenen Tagen bildete sich in meinem Kopf die Idee heraus, angesichts der Versammlung der OAS im Jahr 1948, die von den Vereinigten Staaten zur Konsolidierung ihres hiesigen Beherrschungssystems in Lateinamerika angestrengt wurde, zeitgleich mit dieser Zusammenkunft der OAS und am selben Ort ein Treffen der lateinamerikanischen Studenten mit antiimperialistischen Prinzipien und zur Verteidigung der schon von mir dargelegten Punkte durchzuführen.”

In einer Ausgabe desselben Interviews, das in Kuba vom Verlag Casa Editora Abril kürzlich veröffentlicht wurde, erscheint der Absatz intakt. Jemand erinnerte mich daran, dass ich selbst im Buch Cien horas con Fidel (Nachtgespräche mit Fidel) bezweifelt hatte, dass dies die Zielstellungen waren, die mein Handeln bestimmten. Es ist offensichtlich, dass der Ausdruck nicht klar war, als ich die Wendung „angesichts der Versammlung der OAS“ gebrauchte.

Als einziges Mittel zur Beseitigung der Zweifel habe ich versucht, die Zielstellungen erneut zusammenzustellen, die mir damals den Antrieb gaben, und zu sehen, wie weit reichend die politische Entwicklung desjenigen fortgeschritten war, der gerade zweieinhalb Jahre vorher seinen Abschluss der zwölften Klasse in von Mönchen geleiteten Schulen erreicht hatte. Es handelte sich um eine rebellische Person, deren Energien darauf verwandt worden waren, Sport zu treiben, Erkundungswanderungen zu unternehmen, Berge zu besteigen und mit dem bestmöglichen Kenntnisstand die entsprechenden Fächer in der zur Verfügung stehenden Zeit zu absolvieren, einzig und allein als Ehrensache.

Zu den Dingen, über die ich in meiner Schulzeit recht viel erfuhr, gehörten die täglich veröffentlichten Nachrichten über die Kämpfe, begonnen beim Spanischen Bürgerkrieg ab Juli 1936 – ich war noch keine 10 Jahre alt – bis zum August 1945, – als ich schon fast 19 war – als die Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki abgeworfen wurden, wie ich es schon einmal erzählt habe.

Schon seitdem ich ein ganz kleines Kind war, erlitt ich Ungerechtigkeiten und Vorurteile innerhalb jener Gesellschaft, in der ich lebte.

Als ich nach Kolumbien abfuhr, hatte ich mich schon recht radikalisiert, aber mit 21 Jahren war ich noch kein Marxist-Leninist. Ich nahm am Kampf gegen die Trujillo-Diktatur und Diktaturen ähnlicher Art teil, am Kampf zur Erreichung der Unabhängigkeit von Puerto Rico, zur Rückgabe des Panama-Kanals, zur Zurückgabe der Malvinas (Falkland-Inseln) an die Republik Argentinien und zur Beendigung des Kolonialismus in der Karibik und für die Unabhängigkeit der von England, Frankreich und Holland auf unserer Halbkugel besetzten Inseln und Gebiete.

In jenen Jahren hatte in Venezuela, dem Heimatland von Bolívar, eine von Acción Democrática (Demokratische Aktion) angeführte Revolution stattgefunden. Rómulo Betancourt, inspiriert von radikalen linken Ideen, täuschte vor, ein revolutionärer Führer zu sein. Er regierte das Land von Oktober 1945 bis Februar 1948. Ihm folgte Rómulo Gallegos, der prominente Schriftsteller, der bei den ersten Wahlen nach der Militärbewegung von 1945 als Präsident gewählt worden war. Ich hatte in jenem selben Jahr bei einem Aufenthalt in Caracas ein Treffen mit ihm.

In Panama hatte man gerade auf brutale Art und Weise die Studenten unterdrückt, als sie die Rückgabe des Kanals forderten. Einer von ihnen hatte eine Schussverletzung an der Wirbelsäule erlitten, er konnte die Beine nicht bewegen.

In Kolumbien regte sich an der Universität die Volksmobilisierung der Gaitan-Anhänger sehr.

Die Kontakte mit den Studenten jener drei Länder waren sehr erfolgreich: sie waren mit dem Kongress und der Idee zur Schaffung des Lateinamerikanischen Studentenverbandes einverstanden. Die Peronisten in Argentinien unterstützten uns ebenfalls.

Die Universitätsstudenten von Kolumbien vermittelten mir einen Kontakt mit Gaitán. So hatte ich die Ehre, ihn kennen zu lernen und mit ihm einen Austausch zu führen. Er war der unbestreitbare Führer der armen Schichten der Partei Partido Liberal und der fortschrittlichen Kräfte von Kolumbien. Er versprach, unseren Kongress zu eröffnen. Das gab uns unwahrscheinlich Mut.

In jenem Bruderland fand gerade eine Zusammenkunft der Vertreter der lateinamerikanischen Regierungen statt. General Marshall, Staatssekretär, war im Namen des Präsidenten der Vereinigten Staaten, Harry S. Truman, dort anwesend. Dieser hatte hinter dem Rücken der sowjetischen Seite, ihres Alliierten im Zweiten Weltkrieg, die Millionen Kämpfer verloren hatte, die Atombomben auf zwei große japanische Zivilgemeinden abgeworfen. Das Hauptprojekt der Vereinigten Staaten bei dem Treffen in Bogotá bestand in der Gründung der OAS, welche für unsere Völker solch bittere Früchte mit sich gebracht hat.

Ich befrage mich selbst, ob ich bei meiner ideologischen Entwicklung so weit vorangeschritten war, um mir die kühne Idee vorzunehmen, die Schaffung jener überstaatlichen Einrichtung zu behindern. Allenfalls war ich gegen die dort vertretenen Tyranneien, gegen die Besetzung von Puerto Rico und Panama durch die Vereinigten Staaten, aber ich verfügte noch nicht über eine klare Idee des imperialistischen Herrschaftssystems.

Bei meiner Lektüre der Presse von Kolumbien gab es etwas, was mich recht erstaunte, die Nachrichten über die auf dem Lande stattfindenden Gemetzel unter der konservativen Regierung von Ospina Pérez. Es wurde normal über Dutzende in jenen Tagen getötete Bauern berichtet. Seit langem geschahen solche Dinge in Kuba nicht mehr.

So normal schienen die Dinge, dass ich den Fehler beging, im Theater, wo eine offizielle Galavorstellung stattfand und sich Marshall und die anderen Vertreter der nach Bogotá einberufenen Länder befanden, vom obersten Stockwerk aus einige Pamphlets mit unserem Programm zu werfen. Das hat mich eine Verhaftung gekostet, und zwei Stunden später wurde ich freigelassen. Es schien dort eine perfekte Demokratie zu herrschen.

Etwas Unerwartetes war es, Gaitán und seine Reden kennen zu lernen, wie das Gebet für Frieden, sowie seine beredte, beeindruckende und gut begründete Verteidigung des Leutnants Cortés ­― die ich außerhalb des Saals hörte, da im Raum kein Platz mehr war. Ich meinerseits hatte gerade erst die ersten zwei Jahre des Studiengangs Jura abgeschlossen.

Unsere zweite Zusammenkunft mit Gaitán und weiteren Universitäts-Vertretern sollte am 9. April um 14 Uhr stattfinden. Zusammen mit einem mich begleitenden kubanischen Freund wartete ich auf den Zeitpunkt des Treffens, indem ich eine unserem Hotel und Gaitáns Büro nahe gelegene Allee entlang schlenderte, als ein Fanatiker oder ein Verrückter, der ohne Zweifel hierzu angestiftet worden war auf den kolumbianischen Führer schoss. Der Angreifer wurde vom Volk fix und fertig gemacht.

In jenem Augenblick begann die unvorstellbare, von mir in Kolumbien erlebte Erfahrung. Ich war freiwilliger Kämpfer jenes mutigen Volkes. Ich unterstütze Gaitán und seine fortschrittliche Bewegung genau so, wie die kolumbianischen Bürger unsere Mambises im Unabhängigkeitskampf unterstützt haben.

Als Arturo Alape 1981, Jahre nach dem Sieg der Revolution, nach Kuba reiste, vereinbarte Gabriel García Márquez das Treffen mit mir, das in den frühen Morgenstunden im Haus von Antonio Núñez Jiménez begann. Alape hatte ein Tonbandgerät bei sich und befragte mich stundenlang über die Ereignisse vom April 1948 in Bogotá. Núñez Jiménez machte Aufzeichnungen mit einem weiteren Gerät.

Ich hatte viele frische Erinnerungen der Geschehnisse, die ich nicht vergessen konnte. Der Historiker seinerseits wusste über alles von kolumbianischer Seite aus Bescheid, viele Details, die mir natürlich unbekannt waren. Das hat mir geholfen, den Sinn jeder erlebten Episode zu verstehen. Ohne ihn hätte ich sie vielleicht nie kennen gelernt. Er hatte jedoch eine Aufgabe noch nicht beendet: mit seinen Mitarbeitern alles Aufgezeichnete zu transkribieren. Die andere Tonbandaufzeichnung wurde im Revolutionspalast transkribiert. Ich erinnere mich daran, eine davon redigiert zu haben. Bei dieser Arbeit sind die Dialoge schwieriger als die Reden, weil sich oft die Stimmen überschneiden. Ich habe verstümmelte Worte und veränderte Sätze vorgefunden. Ich habe mir die Mühe gemacht, sie zu redigieren und zu berichtigen. Das Gespräch dauerte über vier Stunden. Wenige können sich vorstellen, wie diese Arbeit ist.

Ich bin der Meinung, dass die Mischung von historischen Ereignissen vor und nach dem Sieg der Revolution in meinem Kopf eine mögliche Verwirrung geschaffen hat. Das denke ich. Gegenüber dem Zweifel ist das Ehrbarste, dies zu erläutern.

Wenn sich meine politischen Ideen auch in den drei Jahren vor meinem Besuch in Kolumbien radikalisiert hatten, so hat sich doch in dem kurzen Zeitraum vom 9. April 1948 bis zum 26. Juli 1953, wo wir die Moncada-Kaserne angegriffen haben – vor fast genau 55 Jahren - eine enorme Veränderung vollzogen. Ideologisch gesehen war ich zu einem echten linken Radikalen geworden, was die Beharrlichkeit, die Ausdauer und ebenfalls die Schläue inspirierte, mit der ich mich der revolutionären Aktion widmete.

Anschließend war der Kampf in der Sierra Maestra, der 25 Monate dauerte, und der erste siegreiche Kampf mit nur 18 Waffen, nachdem unsere kleine Truppe von 82 Mann am 5. Dezember 1956 fast vollständig vernichtet worden war.

In den Archiven des Internationalen Roten Kreuzes sind die hunderten von Gefangenen festgehalten, die wir nach der letzten Offensive des Feindes im Sommer 1958 übergeben haben. Im Dezember jenes Jahres blieb nicht einmal Zeit, dem Internationalen Roten Kreuz zur Übergabe der Gefangenen Bescheid zu geben. In Erwartung des Kriegsendes und mit dem Versprechen, nicht zu kämpfen, übergaben die Soldaten der kapitulierenden Einheiten ihre Waffen, und blieben ohne Waffen einberufen, während die Offiziere ihren jeweiligen Rang und ihre vorschriftsmäßigen Kurzwaffen behielten.

Jetzt, wo das alles schon lange zurückliegt, ist es unvorstellbar, wie bedeutsam so ein Werk wie das von Arturo Alape ist, der ein ausgezeichnetes Buch über diese Etappe des revolutionären Kampfes in Kolumbien geschrieben hat, zu dem ich mir vorgenommen habe, auf theoretischem Gebiet und unter rigoroser Achtung eine Reihe von Reflexionen ausgehend vom Gesichtspunkt der jetzigen Umstände unserer Hemisphäre und der Welt zu schreiben.

Aus alledem geht eine ständige Lehre für den echten Revolutionär hervor: die Aufrichtigkeit und der Mut, um bescheiden zu sein.


Fidel Castro Ruz

17. Juli 2008
20:21 Uhr

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